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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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und Müll produzieren täglich alle. So wurden jeder und jede über Nacht zu ihren eigenen Grubenhunden, die in den Tiefen ihrer Persönlichkeit nach verborgenen Schätzen stöberten. Selbstredend, bis auf wenige Ausnahmen, ohne jeden Erfolg. Denn in Wahrheitsind Begabungen selten wie Trüffeln und entwickeln sich nur ausnahmsweise ein Leben lang im Verborgenen.
    Nachdem wir schmerzhaft erfahren hatten, dass der Schöpfer mit Talenten äußerst sparsam umgeht, kam die Kunst-kann-jeder-Bewegung wieder außer Mode. Nun aber, im Alter, da der Geist befreit und beschwingt ist, meldet sich das Genie in uns zurück, das zudem in der Lage ist, zahlreiche alterstypische Probleme zu lösen. Es genießt hohes Ansehen und kann die Frage nach dem Daseinssinn beantworten. Die Zeit vergeht auf angenehme Weise, und der Stolz auf ein gelungenes Gedicht oder ansehnliches Bild entschädigt für den verlorenen Beruf.
    Mein alter Freund Ali A., der aus Betzdorf an der Sieg, hat im vergangenen Winter über das Internet unsere Alterskohorte zu einem »Nasskalten-Winterabend-Reim-Slam« aufgerufen und brauchte sich um Gefolgschaft keine Sorgen zu machen. Schließlich sind einige hundert Reimereien zustande gekommen, darunter dieses hübsche Herbstgedicht:
    Früher, das ist lang vorbei,
    Samt der wilden Reiterei,
    Schrill als Wüstling aufgezäumt,
    Mit den Sitten aufgeräumt,
    Jede Hemmung abgeschafft,
    Nur die Sünd verleiht dir Kraft.
    Und im Trubel toller Nächte
    Stets von allem nur das Schlechte.
    All das ist Vergangenheit!
    Jetzt herrscht eine zahme Zeit.
    Stille sitze ich hernieder
    Und rülpse leise hin und wieder.
    Im Gefolge jener bedeutsamen Kunst-kann-jeder-Bewegung entstand wenig später eine weitere: die Suche nach Selbstverwirklichung. Wenn ich es recht verstanden habe, gab es da in jedem Selbst etwas, das an seiner Verwirklichung durch die äußeren Umstände gehindert worden war. Diese wiederum hatten kein Interesse an den verborgenen Seiten des Selbst, das von Natur aus widerborstig ist und zur Anarchie neigt. Die äußeren Umstände bevorzugten deswegen den gleichförmigen Massenmenschen. So hing mal wieder alles mit allem zusammen. Nun aber, nachdem das Selbst eine Ahnung von sich selbst bekommen hatte, begann es mächtig nach außen zu drängen.
    Selbstredend handelte es sich dabei um Persönlichkeitsmerkmale, die den bereits vorhandenen unversöhnlich gegenüberstanden. Das richtete bei erfolgreicher Praxis erst einmal ein ziemliches Durcheinander bei jedem Einzelnen an. Der Schüchterne wurde zum Draufgänger, der Feigling zum Helden, der Schweiger zum Schwätzer und der Zwerg zum Riesen. Wobei alle davon ausgingen, dass nur Gutes im Selbst verborgen war. Die Befürchtung, aus Familienvätern könnten Massenmörder und aus Demokraten Diktatoren werden, stand damals nicht auf der Tagesordnung.
    Zeitgleich entwickelte sich die Selbstverwirklichungszubehörindustrie, die neben vielem anderen Räucherstäbchen, Batikfarben, Glasperlen und Stirnbänder unter das Volk brachte – wichtige Accessoires für die Suche nach dem Selbst, zu der viele aus meiner Generation damals aufgebrochen waren. Sie wurden unterstützt durch Herren, meist aus dem angelsächsischen Raum, die, mit Charisma, sagenhafter Beredsamkeit und prächtigen weißen Zähnen begabt, gegen Gebühren und andere Zuwendungen beim Bergen der inneren Schätze behilflich waren, oder durch Personal aus Fernost, das, im Gegensatz zu den hellhäutigen Kol-
legen, schwieg und den Suchenden mit dunklen, rätselhaften Augen, die wie Sardinen in Öl schwammen, in seinen Bann schlug. Die Bergungskosten für das Selbst nebst seiner Verwirklichung waren in beiden Fällen nicht unerheblich.
    Wie alle menschlichen Torheiten hatte auch die Selbstverwirklichung ihre verlockenden Seiten. Die Vorstellung von verborgenen inneren Schätzen, verbunden mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, gehört zu den gern geträumten Tagträumen. Außerdem konnten schlichte Bedürfnisse wie die nach körperlicher Nähe als Momente der Selbstfindung erklärt und leichter durchgesetzt werden. Denn zögerliche Adressaten dieses Ansinnens sahen sich dem Verdacht ausgesetzt, den anderen bei seiner legitimen Suche nach dem Selbst zu behindern, was damals keine gute Presse hatte.
    Deswegen dauerte es eine Weile, bis die Suchenden ermattet innehielten, den Ertrag ihrer Bemühungen in Augenschein nahmen und ernüchtert feststellten, dass der Jutesack bis auf Zigarettenpapier und verdächtige grüne

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