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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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Eiern. Später streift er durch einen nahe gelegenen Wald, auf der Suche nach Beeren und Pilzen. Nebenbei sammelt er Blätter ihm unbekannter Pflanzen und gleicht diese anschließend mit Carl Hoffmanns Pflanzen-Atlas nach dem Linné’schen System ab. Den frühen Nachmittag verbringt er in einem Straßencafé in der Nachbarschaft. »Dort schaue ich den Leuten nach. Die Zeitung lege ich nach kurzer Lektüre zur Seite und beobachte das Treiben. Es ist unglaublich vielfältig und abwechslungsreich. Mehr muss nicht mehr sein.«
    Ähnlich sah es auch der alte Herr Rautenberg aus dem »Rosenpark«: »Je älter du wirst, desto schöner wird die Welt«, stellte er wehmütig fest, nachdem wir abends in seinem Apartment gemeinsam und unterstützt von seiner Ziehharmonika ein Lied über die kleinen Freuden des Alters gesungen hatten, und fügte hinzu: »Vom Leben kann ich nicht mehr viel erwarten – aber ich freue mich auf jeden Augenblick.«
    Der Augenblick ist kleinteilig, auf die unmittelbare Erfahrung angewiesen und führt zu gemächlichem Gang. Wer die Zukunft sein lässt und den Augenblick vorzieht, kommt dadurch unwillkürlich ins Schlendern. Von außen betrachtet mögen die Tage und Stunden im Alter mit Nichtstun angefüllt sein, doch tatsächlich setzen sie sich aus unzähligen Geringfügigkeiten zusammen, die ohne weitere Bedeutung sind außer für denjenigen, der ih-
nen gerade nachgeht. Im besten Fall verzichten wir auf die Ferne und werden im literarischen Sinne Vitalisten: Die gesellschaftlichen Lebenszugaben wie Karriere, Ansehen und Reichtum tun wir beiseite, bescheiden uns mit dem, was die Natur uns gibt und leben trotz nachlassender Kräfte und schwächerer Sinne fortan lebhafter.
    Die Kehrseite der neuen Fülle äußert sich bei mir in einem ständigen Gefühl leichter Wehmut, verbunden mit der Ahnung, dass ich eines Tages alles, was mir neuerlich lieb und teuer geworden ist, verlassen muss und verlieren werde.
    Schließlich gerät mir auch jene bewährte Einsicht kluger Menschen in Gefahr: Man wolle nicht mehr jung sein. Das ist vermutlich eine verzeihliche Lüge, um die Trauer über die verlorene Zeit in Grenzen zu halten. Ich bekenne freimütig: Ich möchte alles noch einmal haben – die Höhen und Tiefen, das Versagen und den Erfolg, die Freuden und die seltenen Momente der Verzweiflung. Ich möchte alles noch einmal unmittelbar, ungeschützt und ohne den altersschweren Ballast meiner Erfahrungen erleben. Ich möchte noch einmal im Park hinter dem Gutshaus meiner Jugend Esskastanien sammeln, am nächsten Tag einen Leiterwagen mit zwei prall gefüllten Säcken die lange Dorfstraße hinaufziehen, um bei der Winzergenossenschaft von einem durchreisenden Händler betrogen zu werden. Und ich möchte auch diesmal mit leerem Hosensack zurückkehren.
    Um meine Lebensdauer mache ich mir keine Gedanken, würde aber ungern die schönen Dinge aufgeben. Mit jeder neuen Entdeckung wiegt der Verlust, dem ich unausweichlich entgegengehe, schwerer. Ich möchte nicht mehr von Sonnenuntergängen, bunten Wiesen, alten Büchern, guten Gesprächen, herrlicher Musik, schwerem Wein und, ach ja, der steten Arbeit an meiner Beziehung lassen, aber ich werde wohl irgendwann nicht umhin kommen.

Vom Leid mit der Leiblichkeit
    »Das Beste am Alter ist die Befreiung
    von sexueller Begierde.«
    SIMONE DE BEAUVOIR
    Was wird im Alter eigentlich aus der Libido, die bei vielen von uns doch einen bedeutenden Platz im Leben eingenommen hatte und die Ursache von Glück und Unglück, von langer Grübelei und bewusstloser Hingabe gewesen war? Für unsere Vorfahren hatte sie noch im sicheren Schoß der Kirche geruht, die über Jahrtausende bemüht gewesen war, die gefährliche Fracht zu entschärfen. Wir haben sie aus der christlichen Gefangenschaft erlöst und sie nebenbei von ihrer eigentlichen Pflicht, der Reproduktion, entbunden.
    Praktisch wäre es, sie zöge sich unauffällig zurück, und die Gesellschaft stellte den notwendigen Raum aus Verständnis und Diskretion bereit. So muss es wohl einst gewesen sein. »Das Alter hat die Heiterkeit dessen, der eine lang getragene Fessel los ist und sich nun frei bewegt«, kann Arthur Schopenhauer eine der wenigen Segnungen hoher Jahre noch beschreiben. Die heutigen Verhältnisse indes sind nicht danach. Die Sexualität bleibt in modernen Zeiten auch im Alter dominantes Thema.
    Die Angehörigen meiner Generation, die Nutznießer der neuen Sinnenkraft und die Erfinder der Redseligkeit zu allem,

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