Altern Wie Ein Gentleman
Wahrscheinlich werden wir nächstes Jahr ganz auf sie verzichten.
Die stille Freude an der Balkongärtnerei hat sich nach und nach und ohne mein Zutun eingefunden. Es bedurfte der erstaunten Bemerkung eines Freundes, damit ich begriff, dass sich etwas in mir verändert hatte: »Was ist denn in dich gefahren? So als Gärtner verkleidet kenne ich dich gar nicht! Lass uns ein Taxi bestellen, sonst kommen wir zu spät«, wehrte er ab, als ich ihm stolz zwei Tomatenstöcke, die reichlich trugen, zeigen und jedes einzelne meiner prächtigen Küchenkräuter persönlich vorstellen wollte.
So habe ich ohne mein Zutun Gefallen an einer Vielzahl von Dingen gefunden, die ich früher achtlos übersehen hatte.
Unsere Erde ist still und bedächtig, laut und aufregend, abwechslungsreich, voller Formen, intim und großartig, sie riecht und klingt in unfassbarer Vielfalt. Man möchte nur ungern von ihr lassen. Das liegt am Blick, der mir mit zunehmendem Alter genauer geworden ist. Unmerklich habe ich begonnen, mich auf alltägliche Eindrücke einzulassen. Die Frühlingsboten einer Großstadt – Forsythien, Stiefmütterchen, Osterglocken auf den öffentlichen Wiesen und das erste Grün an den Bäumen – werden seither aufmerksam registriert. Bislang hatte ich sie nur beiläufig wahrgenommen, heute freue ich mich an ihnen. Sie sind Teil meines Lebens geworden. Ebenso wie das intensive Gespräch mit einer Freundin aus vergangenen Tagen über die Vielfalt des Frühlingsgrüns im Gegensatz zum satten, aber eintönigen Sommergrün. Ich habe ein Vogelfutterhäuschen gekauft und beobachte morgens von meinem Bett aus die muntere Schar, die, von meinen Sonnenblumenkernen angelockt, auf meiner Terrasse herumtobt. Auf Golfplätzen bemerke ich früh im Jahr Weidenkätzchen, später Schlüsselblumen und im Herbst die roten Früchte der Wildrose. Ich freue mich an alledem. Es geht mir zu Herzen und bindet mich wieder ein in eine Welt, die ich in den vergangenen Jahrzehnten meiner Berufstätigkeit selten betreten hatte.
Und noch etwas ist neu in meinem heutigen Leben: Seit ich morgens nicht mehr eilig zu bedeutsamem Tagewerk aufbreche, höre ich nach dem Aufwachen eine halbe Stunde Musik, nicht länger als Hintergrundgeräusch wie einst, sondern ausschließlich auf die Musik konzentriert. Da gibt es ständig überraschende und beglückende – auch so ein Wort, das frisch in meinem Wortschatz ist – Entdeckungen zu machen.
Mein Nachbar, der einst leidlich Geige spielte, lässt diese heute gottlob ruhen, aber er hat seine Noten wiederentdeckt und liest diese, während wir gemeinsam Mozarts Violinkonzerte oder Beethovens Violinromanzen hören. Wir sind uns einig, dass wir auf Musik nur ungern verzichten würden, und haben uns versprochen, sie nie wieder als Hintergrundgeräusch zu missbrauchen.
Ich kaufe ohne Anlass Blumen, die ich je nach Dicke der Stängel unterschiedlich lang zurechtschneide. Dadurch entsteht ein wild bewegter Strauß. Nach dem Aufstehen entferne ich die welken Blätter und beobachte, wie die Knospen aufblühen und verblühen. Das war mir früher unzugänglich. Jetzt bin ich der Natur dankbar für ihre Großzügigkeit und die vielen Eindrücke, die ohne Anstrengungen zu haben sind.
Für mich erschließt sich jetzt, da ich kein Teil mehr bin von einer großen Welt voller bedeutsamer politischer Betriebsamkeit, eine kleine Welt in ihrer unendlichen Vielfalt. Wenn ich allerdings versuche, meine Töchter an meinen neuen Erfahrungen teilhaben zu lassen, stoße ich auf Verständnislosigkeit. Wir scheinen in dieser Hinsicht unterschiedliche Sprachen zu sprechen. Vermutlich haben sie recht. Sie haben keine Zeit für meine Kleinigkeiten, die ich jüngst zu schätzen gelernt habe.
Meine betagte Mutter stellte jeden Abend ihren Wecker, um in der Morgendämmerung auf den Beinen zu sein. Sie ging dann in einem verschlissenen Bademantel, den sie innig liebte und jedem Weihnachtsgeschenk vorzog, fröstelnd auf den kleinen Balkon, der zu ihrer Wohnung gehörte, und betrachtete andächtig den Sonnenaufgang. Wenn Wolken ihr die Sicht versperrten, kam sie enttäuscht zurück. »Ich brauche das für den Tag. Es ist schön«, erklärte sie und fügte mit der seltsamen Sparsamkeit alter Leute hinzu: »Und billig ist es obendrein.«
Ein ehemaliger Kollege, der vor den Toren Kölns wohnt und dort ein großes Grundstück besitzt, hat sich nach der Pensionierung eine Schar Hühner angeschafft und versorgt die Familie täglich mit frischen
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