Altern Wie Ein Gentleman
Krümel immer noch nichts Bedeutendes enthielt. Fast über Nacht wurde die Suche eingestellt, das Zubehör verschwand aus den Auslagen, und die fremden Helfer kehrten mit vollen Taschen in ihre Heimat zurück.
Neulich habe ich einige alte Bekannte angerufen, die seinerzeit auf der Suche nach dem Selbst gewesen waren. Sie konnten sich sehr genau an diese Phase ihres Lebens erinnern und wurden ganz fröhlich, als sie davon erzählten: »Ja, das waren wilde Zeiten damals. Ich möchte sie nicht missen, auch wenn wenig dabei herausgekommen ist außer jeder Menge Spaß. Ich bin damals durch halb Europa getrampt, um an einer bestimmten Gruppensitzung teilzunehmen. Im Gepäck eine Gitarre, auf der ich vier Griffe und The House of the Rising Sun spielen konnte.«
Andere hatte es bis nach Indien verschlagen, um in der fremden Ferne ihr mitteleuropäisches Selbst zu finden. Sie sind ausnahmslos ernüchtert zurückgekehrt.
Was denn zurückgeblieben sei?
»Nicht viel, eigentlich nichts außer einigen schönen Erinnerungen, die ich aber längst verkramt hatte. Schön, dass du mich daran erinnerst.«
Ob er es im Ruhestand noch mal versuchen würde?
»Nein, das ist vorbei, obwohl – ein wenig Sehnsucht ist noch vorhanden, jetzt, da wir von den alten Zeiten sprechen.«
Gerade weil die Suche abgebrochen wurde und damit unerledigt blieb und die Selbstverwirklichung ein neues Leben aus sich heraus ohne Umzug und tiefgreifende Entscheidungen verspricht, hat sie in manchem von uns bis heute überlebt. Mit Rentenbeginn wird sie sich wieder zu Wort melden und auf späte Erfüllung drängen.
Jüngst hat der Selbsterfahrungsgruppenmarkt seine Pforten wieder geöffnet. Das Angebot ist reichhaltiger geworden und hat sich den Bedürfnissen der neuen Klientel angepasst. Ist man schlecht beraten, dem nachzugeben? Natürlich nicht! Die Selbstverwirklichung ist die erschwinglichste und einfachste Form, sein Leben neu auszurichten. Sie wird selten gelingen, aber man ist gut und sinnvoll beschäftigt. Überdies wird im Alter das Träumen häufig zum Stoff, aus dem das Leben ist, denn was ist die Erin-
nerung anderes als der Tagtraum von der eigenen Vergangenheit?
Ich hatte ursprünglich, um meines Zeitkontingents Herr zu werden, begonnen, einen Roman zu schreiben, und befand mich damit in guter Gesellschaft zahlreicher Freunde und Bekannter, die sich nach Rentenbeginn ebenfalls als Schriftsteller versuchten. Seltsamerweise als Autoren von Kriminalromanen, einer naturgemäß blutigen literarischen Gattung, obwohl sie zeit ihres Lebens ein friedliches Dasein geführt hatten. In meinem Werk hingegen sollte es um Freiheit, Verführung und Verlassenheit gehen. Vorübergehend verstand ich mich als Chronist meiner Generation. Nach wenigen Seiten scheiterte ich jedoch an meinem Mangel an Poesie und Begabung und legte das Projekt wieder beiseite.
Stattdessen habe ich eine neue Gesprächspartnerin gefunden. Sie wohnt auf gleicher Höhe im Hinterhof, mir gegenüber. Vor ihrer Wohnung, die ich nur von Weitem kenne, ist mit der Renovierung des Hauses ein tiefer Balkon angebracht worden. Vom Frühling bis in den späten Herbst hinein treffen wir uns gelegentlich zu früher Stunde auf unseren Balkonen an und tauschen Neuigkeiten über die Begebenheiten in unseren Blumentöpfen aus. Während wir Geranien, Lavendel und Küchenkräuter gießen und trockene Blätter und welke Blüten zupfen, sparen wir hoch droben, quer über den stillen Hof, nicht mit gutem Rat, berichten über Neuerwerbungen und erörtern Empfehlungen, die wir in den Gartenteilen von Zeitungen und Zeitschriften gefunden haben.
Während ich früher viele Stunden vor den Zentralen der politischen Parteien verbracht habe, werde ich nun zur gleichen Zeit mit den ersten Frühlingssonnenstrahlen zu einem treuen Kunden der Gärtnereien im Umland von Berlin. Baumärkte lehnen wir ab, bin ich mir mit meiner morgendlichen Gesprächspartnerin einig, wenngleich ich nicht recht weiß, warum. Einen grundsätzlichen Dissens gibt es jedoch zwischen uns: Sie verwendet ausschließlich Naturdünger und natürliche Mittel zur Schädlingsbekämpfung, während ich gewissenlos zur Chemie greife. Wer die besseren Ergebnisse erzielt, ist noch nicht entschieden. Ständiges Thema in besorgtem Tonfall sind die Rosen, deren Pfahlwurzeln sich in unseren vergleichsweise flachen Blumentöpfen nicht wohlfühlen. Außerdem werden sie ständig von Rostpilz, Sternrußtau sowie echtem und falschem Mehltau befallen.
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