Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
Vom Netzwerk:
schweigenindes beharrlich, wenn es um Sexualität geht. Abgesehen von kleinen, melancholischen Nebengeräuschen, die stets Verlust andeuten, ist sie aus unserer Mitteilsamkeit verschwunden. Wir fühlen uns den Leidenschaften zwar noch verpflichtet, aber sie erreichen uns nur noch in gedämpfter Form. Das bringt uns zwischen Anspruch und Leistungsfähigkeit in eine unkommode Lage.
    Zahlreiche einst geläufige Begriffe zum Thema haben wir aus unserem Wortschatz getilgt. Wo sind der starke Tobak von ehedem und die Andeutungen oder detaillierten Berichte über nächtliche Abenteuer geblieben? Die waren zwar in der Mehrzahl übertrieben, gaben aber stets famosen Gesprächsstoff ab. Ist dieses Schweigen Einsicht und Schicklichkeit geschuldet oder Folge bitterer Erkenntnis? Unsere Blicke schweifen noch, aber sie kommen über ein diffuses Gefühl der Vergeblichkeit selten hinaus und ziehen sich rasch wieder zurück. Wenn wir gemeinsam im Straßencafé sitzen und eine attraktive Person kommt vorbei, wäre sie früher sogleich Gegenstand unserer Unterhaltung geworden. Heute blicken wir stumm hinterher und geben acht, dass der Nachbar – oder die Nachbarin – uns dabei nicht ertappt.
    Ein ergrauter Minister im Kabinett Schröder erzählte mir eines Tages, nachdem wir unser Gespräch im Morgenmagazin hin-
ter uns gebracht hatten, dass er, wenn auch vorsichtig und kaum bemerkbar, immer noch attraktiven Frauen auf der Straße nachschauen würde. Neulich habe ihn aber seine heranwachsende Tochter dabei erwischt und ihn entsetzt zurechtgewiesen: »›Vater, lass das!‹ – Aber ich meine«, fragte er, um Zustimmung bittend, »das muss doch noch erlaubt sein?«
    Ich habe ihn in seiner kleinen, unschuldigen Ausschweifung bestärkt und hoffe, er riskiert auch heute noch verborgene Blicke.
    »Über solche Themen spreche ich eigentlich mit niemandem«, erklärte er, als unser flüchtiger Diskurs zur Blickfreiheit beendet war. Warum eigentlich nicht?
    Ungezählte Bücher über das Altern schildern in allen Einzelheiten Chancen und Verluste später Sexualität. Gleichwohl – wir schweigen. Auch ich bin still, und mir wäre nicht wohl, wenn jemand das Thema anspräche. Ich gebe nichts her und will auch nichts wissen. Wir Männer sind gemeinsam stumm.
    Es gibt eine ganze Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen zu den Ereignissen in den Schlafzimmern alter Menschen. Da jedoch niemand zu sagen vermag, was in einem bestimmen Alter sexuell »normal« ist, sind die Ergebnisse uneinheitlich.
    Einer amerikanischen Studie zufolge sind von Paaren zwischen sechzig und vierundsiebzig Jahren bis zu sechzig Prozent sexuell aktiv. Wir wissen jedoch nicht, in welcher Form und wie häufig. Nach einer anderen Studie haben von Paaren zwischen fünfundsechzig und siebzig noch fünf Prozent einmal in der Woche Geschlechtsverkehr und zwölf Prozent einmal im Monat. Auch hier wissen wir nicht, was die alten Paare da im Einzelnen treiben. Eine weitere Untersuchung behauptet, vierundneunzig Prozent der Männer und dreiundsechzig Prozent der Frauen zwischen fünfundsechzig und vierundsiebzig hätten intime Beziehungen. Man fragt sich allerdings, mit wem sich die Männer bei diesem großen zahlenmäßigen Gefälle zwischen den Geschlechtern amüsiert haben wollen. Die Lage ist also unübersichtlich, die Vorurteile sind immer noch groß, und die knappe Formel: »Die Frauen wollen mehr, die Männer können weniger« gilt weiterhin.
    Frauen hingegen sind weniger verstockt, erfahre ich in offenem Gespräch, das sich selbstredend nicht um Sexualität dreht, sondern um die Frage, ob über sie geredet wird. Aus der Vogelperspektive, wo die Libido keinen Schaden anrichten kann, verstehe ich trefflich, über sie zu räsonieren. Was hingegen im Einzelnen besprochen wird, will ich nicht erfahren. Gut kann es nicht sein, schließe ich aus versteckten Hinweisen. Es handelt sich demnach um eine stattliche Mängelliste männlichen Versagens.
    Nach Jahrzehnten grenzenloser Beredsamkeit stecken wir in einer Sackgasse der Sprachlosigkeit fest und wissen nicht, wohin. Denn mit ihrer Verdrängung ist die Realität noch nicht aus der Welt geschafft. Wir befinden uns mit dieser rätselhaften Schweigsamkeit zwar in der guten Gesellschaft unserer Eltern, die freilich aus anderen Motiven, nämlich scham- und stilvoll, geschwiegen haben.
    Als ich eines Tages nach Einbruch der Dunkelheit meine Mutter in ihrer Seniorenresidenz besuchte, saß sie fein gemacht in ihrem Lehnstuhl und sah

Weitere Kostenlose Bücher