Altern Wie Ein Gentleman
mich ratlos und verstört an.
»Was ist dir?«
»Ich war tanzen.«
Meine Mutter war einst, sehr zum Leidwesen meines Vaters, den bereits ein Schiebewalzer vor unlösbare Herausforderungen stellte, eine vorzügliche und ausdauernde Tänzerin gewesen.
»Das ist doch schön. Hast du dich amüsiert? Hat dich jemand aufgefordert, oder warst du Mauerblümchen?« Mütter brauchen flotte Redensarten.
»Es waren keine Männer da.«
»Aha! Und?«
»Ich habe mit Frauen getanzt!«
»Auch schön!«
»Ich habe noch nie mit Frauen getanzt.«
Ich bemerkte, dass meine Mutter zutiefst erschüttert war. Offensichtlich sprengte der Tanztee unter der Führung betagter Damen, die mit langsamen Schritten einer altersgerechten Musik folgten, ihre Vorstellung von jeglichem respektablen Verhalten. Nach sechs Jahrzehnten in den Armen von Männern und ungezählten schnellen Drehungen zu Wiener Walzerklängen kam ihr der Tanztee mit Klavierbegleitung an den Schultern alter Frauen wie der endgültige Abschied aus jener Welt vor, die ihr einst das Leben bedeutet hatte.
»Dann bist du wenigstens nicht in Versuchung geraten, wenn du noch in Gefahr sein solltest, einer zu erliegen.« Persönliche Themen konnte man mit meiner Mutter nur aus der Distanz leichter Ironie ansprechen. Zumindest glaubte ich das damals.
»Ach«, seufzte sie, »es hört nie auf. Es ist schrecklich.«
Das war der intimste Moment, den ich im Lauf vieler Jahrzehnte mit ihr je erlebt habe, und das einzige Mal, dass die Andeutung einer Klage hörbar wurde.
Nachdem einige Jahrhunderte ins Land gegangen waren und das Christentum von einer verfolgten Sekte zu einer mächtigen Staatskirche geworden war, setzte es einen verwegenen Plan in die Tat um und erklärte jene Begierde, die dafür gesorgt hatte, dass die Menschheit in nachparadiesischen Zeiten überlebt hatte, als Wollust zur Todsünde.
Thomas von Aquin, der den ehelichen Geschlechtsakt durchweg mit Begriffen wie »Schmutzigkeit«, »Abscheulichkeit« und »Entehrung« beschrieben hatte, war natürlich nicht verborgen geblieben, dass dieser Voraussetzung auch für den klösterlichen Nachwuchs war. »So kann auch geschlechtliche Betätigung ohne jede Sünde sein, falls sie die rechte Weise und Ordnung wahrt, indem sie dem Zweck der Zeugung dient«, gestand er in zögerlichem Tonfall zu.
Ein zielführender, schlichter, vermutlich rascher Geschlechtsakt ohne Extras blieb also erlaubt. In der Logik des Arguments würde dann alten Menschen, die weder zeugen noch gebären können, jedes fleischliche Vergnügen zur Todsünde. Die wiederum führt auf direktem Weg in den dritten Kreis der Hölle, ein besonders trostloser Ort im Jenseits. Ein langes, gottesfürchtiges Leben wäre umsonst geführt worden – ein Risiko, das kein vernünftiger Mensch eingehen wird. Damit waren die Alten elegant und von höchster Stelle für viele Jahrhunderte von der lästigen Libido befreit worden. In der Zwischenzeit jedoch hat sich der Herrgott weitgehend aus dem Zeugungsgeschäft und seinen Wonnen zurückgezogen.
Unsere Einsilbigkeit in Bezug auf das heikle Thema Wollust und Sexualität hat andere Motive. Für unsere Vorfahren war Sexualität der Ausnahmezustand, für uns ist sie zu einem Dauerzustand geworden, der alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Wir haben zugelassen, dass sie aus den dunklen, aber heimeligen Höhlen der Intimität ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde und dort unter das Joch der protestantischen Ethik mit ihrem Leistungsanspruch geriet. Nun, im Alter, sind die Instrumente der Libido beschädigt, abgenutzt und stumpf, gleichgültig und unansehnlich geworden, und die Einsicht, dass in der Psychopathologie des Menschen »insbesondere die bewusste oder unbewusste Angst vor der Schädigung der Sexualorgane« eine wichtige Rolle spielt, drängt unaufhaltsam an die Oberfläche unseres Bewusstseins. Auf solche Situationen reagiert der Mensch mit dem handlichen und bewährten Einsatz der Verdrängung, was unsere Verschwiegenheit eindrucksvoll dokumentiert. Auch so eine Erbschaft des befreiten Lebens, das eines Tages und unvorhergesehen seinen Tribut fordert.
Ein ergrauter Protagonist der Befreiungsbewegung erklärte kürzlich: »Sex ist doch was für Spießer« und befreite sich damit elegant aus allen späten Verpflichtungen, für die er einst gekämpft hatte. Die christliche Wollust wird durch den stets verachteten Kleinbürger ersetzt, denn wer möchte schon gerne Spießer sein.
Homosexuelle gehen
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