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Altern Wie Ein Gentleman

Titel: Altern Wie Ein Gentleman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Kuntze
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man schon geringe Spuren von Urin. Aber natürlich«, fügte er verständnisvoll hinzu, »fällt es schwer einzugestehen, dass die Schließmuskeln ihren Dienst versagen. Es ist ein weiterer Schritt in jene Richtung, in die keiner gerne geht.«
    Ich nickte ratlos ob dieser schonungslosen Offenheit. »Merkt man das nicht, wenn die schwimmen gehen?«
    »Sie schleichen sich nachts oder frühmorgens ins Wasser. Wenn sie nicht Vernunft annehmen, müssen wir einen Wächter abstellen, was Geld kostet. Auf jeden Fall wird es schwierig werden, Freiwillige zu finden«, seufzte er.
    Stan Levy gesellte sich zu uns. Er könne seine Pisse halten, versicherte er ungefragt, und ließ seinen Blick unternehmungslustig durch den Raum schweifen, der sich mittlerweile mit einer großen Schar trinkender und lachender, aber auch müder und schweigsamer alter Menschen gefüllt hatte.
    »Das ist mir wichtig«, ergänzte er.
    »Warum das?«
    Stan blickte mich verschwörerisch an.
    »Schau her! Ich bin klein und kahl. Ich komme aus Hagen-
sack, New Jersey, und mehr als ein Briefträger bin ich nie gewesen. Ich hatte wenig Glück bei den Frauen. Die meisten haben mich nicht gesehen, und der Rest hat mich nicht wahrgenommen. Hier aber«, und er blickte tatendurstig auf die große Anzahl älterer Frauen, »hier, ganz am Ende, kann ich sie fast alle haben. Gut«, er zog bedauernd die Schultern hoch, »sie sind nicht mehr ganz frisch. Du musst Kompromisse eingehen, aber das habe ich ohnehin ein Leben lang getan.«
    In diesem Moment drängten Marcy und Janine mit leeren Gläsern an die Bar. Sie bestellten im nasalen, trägen Ton der Südstaaten zwei Cocktails. Die beiden waren Mitte siebzig und in ihrer Jugend Southern Belles gewesen, makellose Schönheiten, dazu erzogen, ihren gutbetuchten Ehemännern das Leben in all seiner Vielfalt angenehm zu machen. Mit starken Strichen hatten sie die Konturen ihrer glanzvollen Vergangenheit in die faltigen Gesichter gezogen. Ob sie trotz ihres Alters noch mit der Jugend konkurrieren wollten?
    Sie lachten. »O nein, Honey, die Zeiten sind vorbei, und wir wissen das. Jetzt balgen wir uns um Typen wie diesen«, Marcy warf Stan einen kurzen Blick zu, »der bei uns zu Hause nicht einmal die Teller hätte abtragen dürfen, und ich sage abtragen! Aber hier kommen achtzig gut erhaltene Weiber auf zwanzig Männer, von denen die Hälfte nichts mehr hochkriegt. Der da«, sie wies auf die gegenüberliegende Seite der Bar, wo ein Herr mit schmalem Oberlippenbart vorsichtig an einem Cocktail nippte, »das ist mein Milieu! Aber der redet nur noch Unsinn und verbringt seine Tage im Rollstuhl. Was wollen Sie machen. Ich habe keine Lust, unter einer Kniedecke nach einem abgestorbenen Stück Fleisch zu kramen, um dann erfolglos zu versuchen, es in Form zu bringen. Und glauben Sie mir, ich bin nicht ungeschickt. Also kriegen wir uns wegen Typen wie diesem kleinen Strolch mit seinem komischen Namen und seinem stolzen Schwanz in die Wolle. Immerhin ist er unterhaltsam, was man von den Männern meiner Vergangenheit nicht sagen kann. Die kamen als Jäger und Golfspieler direkt aus der Heimat allen Stumpfsinns.« Herablassend strich sie Stan über den kahlen Schädel. »Ich versichere Ihnen – wir haben noch unser Vergnügen!«
    Sie wurde sentimental. Ein Träne bahnte sich ihren Weg über die Wange und spülte eine kleine Lawine von Rouge und Puder vor sich her. Es sah nicht schön aus. Die beiden nahmen ihre Cocktails und verschwanden trotz der randvollen Gläser mit dem sicheren Schritt erfahrener Partygäste in der Menge. Stan, der ungerührt zugehört hatte, lächelte still, wie einer, der Niederlagen nicht mehr zu fürchten braucht.
    In unserer Jugend wurde seinerzeit die Pille entwickelt, um zu verhindern, dass aus Spaß jemals Ernst würde. Selten hat eine einzelne Erfindung das gesellschaftliche Bewusstsein, und das hat in der Regel einen sturen Charakter, so schnell und tiefgreifend verändert. 1966 waren siebzig Prozent der Studentinnen Jungfrauen und davon überzeugt, vorehelicher Geschlechtsverkehr sei schädlich. Zwei Jahre später bereits, die Pille lag in der Zwischenzeit in jedem Badezimmer, war davon keine Rede mehr. Der Keuschheitsgedanke war über Nacht der »normativen Kraft des Koitus«, der bis dahin eher eine Existenz im Verborgenen geführt hatte, zum Opfer gefallen. Die unvorhergesehenen Folgen können wir zwei Generationen später besichtigen. Aus der vaterlosen ist die kinderlose Gesellschaft

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