Altern Wie Ein Gentleman
den Ecken und dürfen dem Treiben zuschauen. Würden wir es wagen, zwei Schritte vorzutreten, wären wir schnell zu Fall gebracht.
Lisas Welt war angefüllt mit Mode, Musik, Freundinnen, Freunden, Schule und tausend kleinen Sorgen. Sie war einem ständigen Strom lebensnotwendiger Eindrücke und Anforderungen ausgesetzt und gezwungen, ihre Kräfte einzuteilen. Wir Alten schaffen es nur noch bis zu ihrer Netzhaut. Der Raum dahinter, dort, wo das Sehen anfängt, bleibt uns verschlossen. Wir werden unsichtbar, was nicht ohne Vorteil ist, denn wir haben so manches zu verbergen. Dies Leben im Halbschatten wird meiner Generation, die einst das öffentliche Privatleben erfunden und in die Tat umgesetzt hatte, schwerfallen. Im Alter jedoch lebt es sich leich-
ter und ungenierter im Freiraum der Verborgenheit.
Es gibt auch jenen neugierigen Blick, solange das Alter, verdeckt durch Distanz oder Blickwinkel, noch nicht recht erkennbar ist. Doch kaum wird es genauer wahrgenommen, werden die Augen stumpf wie durchgebrannte Glühbirnen, und der Kopf dreht sich kaum merklich in eine andere Richtung. Das sind die wahren Augenblicke im Verhältnis von Jung und Alt: graziös in der Form, wuchtig in der Botschaft.
1932 wurde in Berlin ein neues Stück von Gerhart Hauptmann mit dem Titel Vor Sonnenuntergang aufgeführt, worin der Kommerzienrat Clausen, »ein soignierter Herr von siebzig Jahren«, sich in die knapp zwanzigjährige Inken Peters verliebt. Seine Zuneigung wird erwidert, und die beiden beschließen zu heiraten. »Sie leiht mir ihr Auge, ihre Jahre, ihre Frische … Ihre gesunden Atemzüge, die ich gelehrig nachahme, machen mich leicht und frei«, beschreibt der Alte zeitlos den persönlichen Ertrag einer solchen Liaison. Die Sache gerät jedoch außer Kontrolle und nimmt schlechten Verlauf. Seine vielköpfige Kinderschar sieht die Erbschaft bedroht und wehrt sich. »Papa ist wahnsinnig … nicht mehr zurechnungsfähig … beinah möchte man sagen pfui, pfui, pfui«, sind sie sich einig. Sie lassen ihn entmündigen, und er richtet sich selbst.
Beziehungen zwischen älteren Herren und sehr viel jüngeren Frauen sind trotz dieser tragischen Geschichte seither nicht aus der Mode gekommen. Im Gegenteil, die Lebensentwürfe sind vielfältiger geworden, und eine als Toleranz getarnte Gleichgültigkeit ersetzt die Verbindlichkeit traditioneller Wertvorstellungen und bewährter Einsichten. »Um wieder jung zu sein, muss man nur seine alten Dummheiten wiederholen«, begründete Oscar Wilde lakonisch die tiefen Ursachen der späten Partnersuche.
Diese Entwicklung hat mit einiger Verzögerung und mit Unterstützung einer ganzen Studentenbewegung schließlich Eingang ins Gesetzbuch gefunden. Das alte Scheidungsrecht, die Ehe als christliches Sakrament, das Verbot von Homosexualität und der Kuppeleiparagraf, der die Vermieterin einer Studentenbude mit dem Straftatbestand der Kuppelei bedrohte, wenn sie nächtlichen Besuch zuließ, sind glücklicherweise abgeschafft oder haben sich erledigt. Seither müssen Kinder und Enkel stillschweigen, selbst wenn sie die neuerliche Ehe ihres Vaters oder Großvaters mit einer jüngeren Frau nicht gutheißen.
»Ich ertrage diese Männer mit ihren jungen Dingern nicht«, vertraute mir eine alte Freundin angesichts eines verdienten Politikers mit seiner jungen Gemahlin an, als wir in einem Straßencafé beisammensaßen und mit lockerer Zunge die Menschen betrachteten, die gemächlich an uns vorbeischlenderten. »Ich weiß, das ist nicht in Ordnung, aber auf mich wirken die beiden wie ein Angriff auf mein Geburtsdatum. Es führt mir jedes Mal vor Augen, wie gnadenlos wir abgelegt werden. Dabei hätte ich selbst gerne einen jungen Knaben, aber das wird wohl nichts mehr werden.« Sie seufzte resigniert.
Einst hatte ich in Tübingen an ihrer Seite mit einem Kissen unter meinem Kaschmirpullover mit der Parole »Mein Bauch gehört mir!« gegen den Paragrafen 218 demonstriert. Und doch – trotz aller gesellschaftlichen Fortschritte waren die ehernen Gesetze der Biologie, wie auch die Qualität meiner Pullover, dieselben geblieben.
Was aber fasziniert am jungen Leib? Warum verlassen ältere Männer – in geringerem Maß auch ältere Frauen – über Nachtdie bekannten und bewährten Bahnen und stürzen sich in Ungewissheiten, die sie in der Vergangenheit sorgfältig gemieden hatten?
Einige Gründe hat Hauptmanns Kommerzienrat bereits aufgezählt. Es verbirgt sich dahinter kein Geheimnis, sondern der
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