Altern Wie Ein Gentleman
bunte Strauß aus Erfahrungen und Empfindungen, die von jeher zur Lebensfülle gehören: das Neue und die Abwechslung, das Abenteuer und die Überraschung. Sie sind zwar die Triebkräfte des Elan vital, aber waren häufig über lange Jahre stillgelegt. Jetzt soll Versäumtes nachgeholt werden. Tatendrang und Entschlossenheit beherrschen den Tag, der energisch von jeglicher Routine befreit wird. Ein beglückender Hauch von Neuanfang liegt über der Szene, entfernt verwoben mit der Hoffnung auf Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Die Libido wird wiederentdeckt. Man gewinnt einen Gesprächspartner, der den alten Geschichten dankbar zuhört und über die abgestandenen Witze noch zu lachen weiß.
Befeuert werden die Lebensgeister durch einen sublimen Vampirismus, der auch dem Kommerzienrat nicht fremd war, als er sich »Jahre, Frische und magnetisches Fluidum« seiner Angebeteten »auslieh«. Die Alten erhoffen sich eine Art Übertragung von Jugendlichkeit, Spannkraft und Leidenschaft auf das eigene verblichene Temperament. Sie fordern magische Kräfte im Tausch gegen Stil und sozialen Status.
Eine der kostbarsten menschlichen Fähigkeiten, die zur Hoffnung, die vielen unmerklich abhandengekommen ist, soll sich erneut mit Leben füllen, eingedenk einer Einsicht von Jean Paul: »Das Alter ist nicht trübe, weil darin unsere Freuden, sondern weil unsere Hoffnungen aufhören.« Hoffnungen sind die ruhigen, beharrlichen Kräfte in ausweglosen Situationen und der Schutzengel, an dessen Hand wir uns selbst durch das Leben führen. Hoffnungen sind Wegweiser in schwierigem und schlecht beleuchtetem Gelände. Ohne sie kommt das Leben zu jenem Stillstand, den viele alte Menschen beklagen, ohne recht zu wissen, was ihnen fehlt. Zumeist war ihnen die Hoffnung vor so langer Zeit verloren gegangen, dass sie keine Erinnerung mehr an sie haben. Mit der neuen Beziehung stellt sie sich wieder ein, undeutlich zwar, ohne rechtes Ziel und verbindliche Inhalte, aber als starkes Gefühl, das unverzüglich in konkrete Maßnahmen umgesetzt sein will.
Auch wir haben »ein Recht auf Sehnsucht«, begründete ein Freund mit einem unbehaglichen Unterton seine späte Scheidung und überraschende Neuvermählung mit einer jüngeren Frau. Wer möchte das bestreiten und hätte den Mut, nach den Einzelheiten dieser Sehnsucht zu fragen?
»Ich fühle mich wie neugeboren. Unglaublich, was in meinem Leben seither geschieht. Ich bin vierundzwanzig Stunden am Tag nur noch eines: dankbar«, beschreibt ein anderer Betroffener etwas atemlos den Ertrag dieser Form von Vampirismus.
Der neuen Beziehung sind gleichermaßen Zauber und Unerbittlichkeit des Neuanfangs eigen. Sie befreit den Alten zwar aus der Eintönigkeit seiner Vergangenheit, aber zwingt ihn unnachsichtig zu neuen Eindrücken und Erfahrungen, die selten seinem eigenen Interesse als vielmehr der neuen Beziehung geschuldet sind. Seine Tage verlaufen, als ob eine fremde Macht Gewalt über ihn erlangt hätte. Aufbruch liegt in der Luft, ebenso wie eine leichte Melancholie, denn die Jungen leben in der Unendlichkeit, die Alten hingegen in der Endlichkeit. Jeder Blick auf die junge Frau bezeugt dem alten Mann, dass die Beziehung nur auf Zeit geschenkt sein wird.
Ein alter Mann auf Freiersfüßen muss in Vorleistung treten, um erfolgreich auf Brautschau zu gehen, denn die Ehe in großer Altersdifferenz ist nicht für jeden gedacht. Er sollte vermögend sein, in öffentlichem Ansehen stehen, um an begehrte Einladungen zu kommen, und über jene Jugendlichkeit verfügen, der sich die Vertreter meiner Generation erfreuen, vorausgesetzt, sie haben ihren Lebensunterhalt nicht an einer Werkbank verdienen müssen. Die klassischen Merkmale alter Männer wie Weisheit, Lebenserfahrung, souveräne Distanz und sicheres Urteil spielen eine untergeordnete Rolle, wenngleich sie stets genannt werden, wenn junge Ehefrauen nach den Vorzügen ihrer ergrauten Gatten gefragt werden. Für sie kann die Ehe mit dem späten Mann Wohlstand, Prominenz und das Ende aller beruflichen und materiellen Sorgen bedeuten und, wenn er hochbetagt ist, die Aussicht auf Erbschaft in einem Alter, in dem der Reichtum noch ausgelebt werden kann: keine geringe Ausbeute, wenn man es recht bedenkt.
Die Sehnsucht nach dem jungen Leib ist so alt und zäh wie die Libido selbst. Einst war sie dem Adel und Künstlern vorbehalten. Der Herzog von Bouillon war sechsundsechzig Jahre alt, als sein Sohn zur Welt kam. Der Vater von Kardinal Richelieu vermählte
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