Altern Wie Ein Gentleman
geworden.
Fünf Jahrzehnte später kommt, rechtzeitig für unser Alter, Viagra auf den Markt. Das verhilft der Libido zwar nicht auf die Sprünge, aber der Erektion, dem sichtbarsten Ausweis von Zeugungskraft und Virilität. Damit soll die Natur ein weiteres Mal überlistet und unser langer Weg durchs Alter mit Freuden garniert werden, die bislang das Vorrecht der Jüngeren gewesen waren.
Sexualität spielt sich jedoch vor allem im Kopf ab und verlangt nach Vertrautheit, Erfahrung und Fantasie. Erst daraus entsteht jene Intimität, die aus Sexualität einen treuen Gefährten der Zuneigung werden lässt. Viagra ersetzt den Kopf und die Emotionen durch Chemie. Wir sind dabei, im Alter den gefühlsneutralen, auf die Mechanik einer Luftpumpe reduzierten Geschlechtsverkehr zu erfinden.
Ein weiteres Mal versuchen wir, ohne weiter darüber nachzudenken, den Vorgaben der Natur zu entkommen. Die Folgen dieser Neuerung werden wir in zwei Jahrzehnten jenseits aller Verantwortung betrachten können.
Die Aufregung um Viagra und das Ersetzen einer sensiblen Diskussion zwischen den Partnern durch Chemie lässt oft vergessen, dass es selbst im hohen Alter eine Sexualität gibt, die auch ohne Erektion und Pillen sehr vergnüglich ist. Heinz Kleinmann, der im »Rosenpark« ein Nachbar war, gestand mir eines Abends nach einigen Gläsern Wein, dass ihm seine zweite, kaum jüngere Frau Handreichungen und anderes gezeigt habe, »die mich erlöst haben. Seither vergnügen wir uns, wenn immer Lust ist, und ich kann beruhigt ins Bett kommen, auch wenn es, Sie wissen schon, nicht mehr so wie früher ist«, wie er sich etwas gewunden, gleichwohl eindeutig ausdrückte.
Das Spektrum der sexuellen Aktivitäten und die Formen der Befriedigung sind bekanntlich von unglaublicher Vielfalt. Kein menschlicher Trieb ist so plastisch und formbar wie die Libido. In dieser unerschöpflichen Vielfalt werden wir uns aufs Neue zurechtfinden müssen. »Altern selbst führt nicht zu sexuellen Problemen«, heißt es in einem umfangreichen amerikanischen Standardwerk über Geriatrie. Form, Intensität und Häufigkeit unserer Wollust werden sich verändern. Voraussetzung sei aber die Befreiung von gesellschaftlichen Leitbildern zur sexuellen Attraktivität.
Wir werden jedoch die Verknüpfung von jungem Leib und Begierde auf gesellschaftlicher Ebene schwerlich aufheben können. Sie hat über Jahrzehnte eine Beharrlichkeit entwickelt, der gegenüber jeder Einzelne machtlos ist. Zudem ist sie eng mit unserer Form des Wirtschaftens verbunden. Die seltenen Versuche, für eine sinnliche Ästhetik des alten Körpers zu werben, erhalten zwar stets die guten Kritiken des schlechten Gewissens, aber sie bleiben folgenlos. Sie stören, und es ist nicht ausgemacht, ob sie nicht das Gegenteil dessen bewirken, was sie erreichen wollen. Wir werden den Kampf um veränderte Leitbilder in unseren Köpfen zwischen den eigenen vier Wänden ausfechten müssen, jeder für sich. Im Alter wird wieder zur Privatsache, was wir einst gedankenlos der Öffentlichkeit preisgegeben hatten.
Und eine Liebestechnik aus früher Jugendzeit könnte wieder an Bedeutung gewinnen. Damals war die Selbstbefleckung von allerlei dunklen Gerüchten umgeben. Tatsächlich aber sei sie dieLiebe mit dem Menschen, den er am meisten schätze, begründet Woody Allen deren Unentbehrlichkeit, und Oscar Wilde fügt feinsinnig hinzu, dabei würde man zudem nur wohlerzogene Menschen treffen. Betty Dodson, die ich in New York kennenler-
nen durfte, hat ein Buch zum Thema veröffentlicht und erläutert sachlich und entspannt die Vorteile des Onanierens: »Der Geschlechtsverkehr ist ein komplizierter und zeitraubender sozialer Vorgang. Sie müssen jemanden kennenlernen, einen geeigneten Ort finden, sich aufeinander einstimmen, und selbst unter günstigen Voraussetzungen geht es häufig schief. Bei der Onanie hingegen entfallen alle diese Schwierigkeiten.«
Trotz dieser unbestreitbaren Vorzüge geben weniger als fünfzig Prozent der älteren Menschen an zu onanieren, was im Hinblick auf die grantige, aber für die Alten wertvolle Einsicht von Karl Kraus: »Der Beischlaf hält nicht, was die Onanie verspricht« eine erstaunlich niedrige Zahl zu sein scheint. Vielleicht bringt das Internet mit all seinen verborgenen Nischen meine Generation wieder auf Trab.
Im Alter trennen sich häufig die sexuellen Biografien von Mann und Frau und, wenn es die Platzverhältnisse erlauben, auch die Schlafzimmer. Der Partner sei
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