Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
übernehmen die Kontrolle über ihn.«
»Brrrrr«, sagte Ambre schaudernd. »Ihr macht mir Angst! Ich hoffe sehr, dass du dich irrst, Amy!«
»Wenn es keine Gespenster waren, wurden unsere Soldaten von Pans massakriert«, entgegnete sie. »Ist dir das lieber?«
Ambre runzelte verdrossen die Stirn.
»Liegt es … liegt es an deiner Reise in den Norden und an diesen Gespenstern, dass du Angst vor Kirchen hast?«, fragte sie.
Amy schnalzte mit der Zunge.
»Ich wusste, dass diese Frage früher oder später kommen würde«, murmelte sie leicht genervt.
»Ich wollte nicht aufdringlich sein, ich dachte nur, es würde dir vielleicht guttun, darüber zu reden. Entschuldige.«
Amy seufzte.
»Ihr könnt es ruhig erfahren«, meinte sie schließlich. »Es ist wegen meiner Eltern.«
»Ah«, sagte Ambre und legte ihre Hand auf die von Amy. »Das tut mir leid.«
»Sie waren … Frömmler, ich glaube, so kann man es nennen. Rannten jeden Tag in die Kirche. Für sie gab es nur Gott, um es mal so zu sagen.«
»Und du warst nicht gläubig?«, fragte Tania erstaunt.
»Doch, natürlich. Mit solchen Eltern hatte ich nie eine Wahl! Am Abend des Sturms war ich bei meinen Großeltern, meine Eltern sollten zum Abendessen zu uns stoßen, aber wegen des vielen Schnees, der gefallen war, kamen sie nicht aus unserer Kleinstadt weg. Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin, war niemand mehr im Haus, auch nicht auf der Straße. Ich war ganz allein. Sobald ich begriffen hatte, dass etwas Schlimmes passiert war, habe ich mich warm angezogen, etwas zu essen eingepackt und bin zu Fuß die fünfzehn Kilometer bis nach Hause gelaufen. Aber dort war auch niemand. Da fiel mir die Kirche in unserem Viertel ein. Ich war mir sicher, dass meine Eltern dort Zuflucht gesucht hatten. Ich bin dorthin gegangen und –«
Tränen flossen über die Wangen der kleinen Weitwanderin. Sie wischte sie mit dem Rücken einer Hand weg und holte tief Luft, bevor sie fortfuhr:
»Sie waren tatsächlich dort. Zumindest das, was noch von ihnen übrig war. Es waren mindestens sechs oder sieben, eins hässlicher als das andere. Wesen mit faltiger, lappiger Haut voller Warzen, mit krummen Fingern und leerem Blick.«
»Mampfer …«, murmelte Ambre.
»Ja, Mampfer. Ich habe meine Eltern trotz ihres entstellten Aussehens gleich erkannt.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Sie waren die Ersten, die mich angriffen. Ich konnte entkommen, aber ich werde nie wieder einen Fuß in eine Kirche setzen.«
»Hast du deinen Glauben verloren?«, fragte Tania.
»Gott hat nie existiert«, erwiderte Amy harsch. »Dieser Quatsch wurde vor langer Zeit nur erfunden, um kriegerische Gemüter zu besänftigen. Gäbe es Gott wirklich, wäre das alles nie passiert!«
Ambre schüttelte leicht den Kopf und meinte ruhig:
»Ich weiß nicht, ob es Gott gibt, aber ich weiß, dass es wichtig ist, Überzeugungen zu haben und in Einklang mit ihnen zu leben. Bei dir jedoch spüre ich viel … Zorn. Zwischen dem, was dir deine Eltern beigebracht haben, was du lange Zeit für wahr gehalten hast, und dem, was du heute empfindest, musst du –«
»Ich empfinde vor allem Hass. Und zwar auf diese ganzen Lügen«, unterbrach sie und drehte sich zur Kirche um. »Hätten meine Eltern nicht an Gott geglaubt, wären sie in jener Nacht nicht in der Kirche gewesen und wären vielleicht keine Mampfer geworden.«
»Aber dann hätten sie sich in Luft aufgelöst wie meine Eltern«, erklärte Tania traurig.
»Oder sie wären Zyniks geworden, ohne Erinnerung und ohne Liebe«, setzte Ambre hinzu.
»Wie kommt es, dass du immer so stark bist, Ambre? Wie machst du das nur?«, fragte Tania plötzlich. »Seit ich dich kenne, hast du keine Schwäche gezeigt. Nie sprichst du wehmütig über die Vergangenheit. Es scheint fast so, als hättest du vor dem Sturm kein Leben gehabt!«
»So ist es auch«, antwortete Ambre düster. »Vorher hatte ich kein Leben. Ich hatte eine feige Mutter, einen alkoholabhängigen Stiefvater. Jetzt lebe ich so, wie ich will.«
»Und was ist mit deinem richtigen Vater? Kanntest du ihn?«
»Nein«, erwiderte Ambre etwas zu schnell.
»Aber fehlt dir deine Mutter nicht? Deine alten Freunde?«
Ambre überlegte eine Weile, bevor sie antwortete. Es war eine Frage, die sie sich nie stellte. Alles, was mit der Vergangenheit zu tun hatte, interessierte sie nicht mehr.
»Ich habe in dieser Welt meinen Platz gefunden«, erklärte sie. »Vorher war ich ständig auf der Suche nach meiner Rolle,
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