Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
goldenen Kruzifix, umrahmt von Statuen der Jungfrau Maria, stand ein Hostienschrein. Plötzlich leuchtete er auf und entsandte grelle Lichtblitze in den Raum.
Die drei Jungen hielten sich die Augen zu und wichen zurück.
Da erhob sich ein Gemurmel zwischen den leeren Bänken im Kirchenschiff. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Stimmen redeten leise durcheinander.
»In dieser Kirche spukt es!«, stöhnte Tobias und machte einen Schritt auf den Ausgang zu.
Matt schüttelte den Kopf.
»Die Bänke … sprechen!«, sagte er und ging weiter.
Überall auf dem Boden zwischen den Säulen oder auf den Bänken lagen kleine Bibeln herum.
Auf einmal kam ihm eine dunkle Ahnung. Er hob eine der Bibeln auf.
Aus dem Buch drang die Stimme eines Mannes.
»Unglaublich!«, rief er.
Er blätterte um.
Sofort erklang eine andere Männerstimme. Er wiederholte den Vorgang, und es folgten weitere Stimmen: von Männern und Frauen, manchmal von Kindern, und die Sprache war nicht immer Englisch. Matt erkannte Spanisch, Italienisch, etwas, was er für Deutsch hielt, dann Französisch … Jedes Mal, wenn er auf eine neue Seite kam, ersetzte ein neuer Sprecher den vorherigen.
»In diesen Bibeln sind Leute«, sagte er zu seinen Freunden.
»Ich bin keine Leute, ich bin John«, antwortete eine Stimme von der Seite, die er gerade aufgeschlagen hatte. »John aus Akron in Ohio.«
Matt kippte vor Überraschung fast aus den Stiefeln.
»Ach du Schande!«, rief Tobias.
Mittlerweile war auch der Rest der Truppe zu ihnen in die Kirche gekommen und hatte sich um Matt versammelt. Die Hunde waren draußen geblieben.
»Können … Können Sie mich hören?«
»Wer bist du?«, fragte John. »Wo sind wir?«
»Ich … Ich heiße Matt. Und wir sind in … in einer Kirche nordwestlich von Siloh.«
»Siloh? Kenne ich nicht. Ich kann nichts sehen. Alles ist schwarz.«
»Schwarz?«, wiederholte Tobias. »Ist es auch kalt?«
Ambre runzelte die Stirn, eine stumme Frage, was er damit bezweckte.
»Der Kerl ist vielleicht tot und weiß es nicht!«, murmelte Tobias.
»Nein. Es ist nicht kalt.«
»Seit wann sind Sie da?«, fragte Tania.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe jedes Zeitgefühl verloren.«
Floyd trat neben Matt und ergriff das Wort:
»Erinnern Sie sich an den Sturm vom 26. Dezember?«
Der Mann überlegte mehrere Sekunden, bevor er antwortete:
»Ist das ein Datum?«
»Äh … ja«, antwortete Floyd vorsichtig. »Sagt Ihnen das nichts?«
»Doch, irgendwie schon. Ich …«
Erneutes Schweigen.
»Am 26. Dezember«, wiederholte John schließlich. »Ein Sturm, sagen Sie. Ja, ich glaube schon.«
»Wo waren Sie an dem Tag?«
»Wo? Bei mir zu Hause in Akron.«
»In Ihrem Haus?«, hakte Floyd nach.
»Ja. Nein, wartet … Ich … ich weiß es nicht.«
»Haben Sie Ihr Gedächtnis verloren?«, fragte Ambre teilnahmsvoll.
»Alles ist durcheinander. Ich bin mir über gar nichts sicher. Ich kenne meinen Namen. Aber ich weiß nicht, wer und wo ich bin.«
»Der 26. Dezember, der letzte Tag der alten Welt«, versuchte es Floyd erneut, »sagt Ihnen das nichts?«
Der Mann ließ ihn lange Sekunden warten.
»Ich glaube schon. Ein Sturm, ja. Ich erinnere mich … Warten Sie! Ein Gesicht. Ich … ich glaube, das ist meine Frau.«
»Sie wissen nicht, ob Sie verheiratet sind?«, fragte Chen ungläubig.
»Nein. Ich bin John aus Akron in Ohio. Das ist alles, was ich weiß. Aber ich sehe jetzt ein Gesicht. Das ist meine Frau.«
»Wie heißt sie?«, fragte Ambre.
Wieder Stille.
»Ich … ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern«, gestand John nach einer Weile.
»Er weiß wirklich nichts mehr«, folgerte Chen.
Floyd legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Weil er nicht mehr existiert«, sagte er leise, damit John ihn nicht hörte. »Er hat alles verloren, Zeitgefühl, Orientierung, Erinnerungen. Selbst die Neugier. Er will nicht einmal wissen, wer wir sind!«
»Und warum zum Henker ist er in der Bibel?«, fragte Tobias verwirrt.
Floyd beugte sich über das Buch. Er hatte da so eine Idee.
»John«, sagte er, »am 26. Dezember, waren Sie da in der Kirche?«
»In der Kirche? Ich … Ich war … Moment. Mein Kopf ist leer, ich erinnere mich an gar nichts mehr. Ich weiß nur, dass ich John bin, aus Akron in Ohio.«
»Das Gesicht Ihrer Frau«, meinte Ambre, »denken Sie an ihr Gesicht. Sie waren mit ihr zusammen, nicht wahr?«
»Am Tag des Sturms«, ergänzte Tobias.
Stille.
»Ich hatte
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