Alterra: Der Herr des Nebels: Roman (German Edition)
Angst«, sagte John endlich. »Und sie auch. Jedenfalls scheint mir das der richtige Begriff zu sein, Angst. Ich bin mir nicht sicher, aber dieses Wort kommt mir in den Sinn. Ja. Es stimmt. Ich war in der Kirche. Glaube ich. In einer Kirche. In Akron, bei uns.«
Floyd nickte. Er legte die Bibel behutsam etwas abseits auf eine Bank, um ungestört mit seinen Freunden reden zu können:
»Das habe ich mir gedacht. Die Leute in den Bibeln sind die Geister derjenigen, die in der Kirche waren, als der Sturm über das Land hinweggefegt ist. Derjenigen, die gerade in ein Gebet versunken waren oder die in ihrer Panik in eine Kirche geflüchtet sind. Als die Blitze die Erwachsenen in Luft auflösten, verschmolzen all diese Leute … mit ihrem Glauben.«
»Willst du uns verschaukeln?«, sagte Tania atemlos. »Das ist ja furchtbar.«
»Ihr Leib ist verschwunden wie bei allen anderen«, fuhr Floyd fort. »Aber ihr Geist, ihre Seele oder wie auch immer man das nennt, wurde von ihrem Glauben beschützt – oder darin gefangen, je nachdem, wie man es sehen will.«
»Du hast schon länger über die Sache nachgedacht«, sagte Ambre. »Du bist nicht zum ersten Mal hier, stimmt’s?«
»Doch. Aber ich habe schon mal eine ähnliche Geschichte gehört. Letzten Monat erkundete ein Weitwanderer eine Kirche östlich von Eden. Er hatte keine Erklärung für das, was er dort gesehen hatte, aber ich zog meine Schlüsse daraus, und jetzt scheinen sich meine Vermutungen zu bestätigen. Wir wollten es nicht an die große Glocke hängen, solange wir nicht sicher waren.«
»Der Glaube hat sie vor der Natur geschützt?«, fragte Chen.
»Oder sie verdammt!«, warf Tania ein. »Das ist eine Frage des Standpunkts!«
Matt faltete gedankenverloren die Hände unter dem Kinn.
»Du glaubst also«, murmelte er, »dass sich der Geist von John in einer Bibel in Akron befindet? Aber warum können wir ihn dann hier hören?«
»Beim Umblättern hören wir Menschen aus der ganzen Welt. Die Bibeln sind miteinander verbunden.«
»Durch Gott?«, rief Tobias aufgeregt und riss die Augen weit auf.
»Durch den Glauben der Menschen. Dadurch haben sie eine Art Verbindung geschaffen, so etwas wie einen geistigen Energiestrom. Ich bin nicht sicher, ob Gott, falls es ihn gibt, irgendwas damit zu tun hat.«
»Aber erst Gott ermöglicht das alles doch, oder?«, erwiderte Tobias.
»Nein, es hat nur etwas mit religiösem Eifer zu tun. Oder anders gesagt, mit tiefer Frömmigkeit. Im Laufe der Jahrhunderte muss durch die Gebete der Menschen eine gemeinsame Energie entstanden sein, eine Art gemeinsame Schwingung. Jedenfalls ist das meine Vermutung. Was wir hier sehen, könnte ein Beweis dafür sein. Es hat nichts mit irgendeinem Gott zu tun, sondern nur mit der religiösen Hingabe der Menschen, und es gilt für alle Religionen. Dieses Phänomen findet man bestimmt auch in Moscheen, Synagogen, buddhistischen Tempeln und anderen Gebetsorten.«
Tobias machte ein skeptisches Gesicht.
»Floyd«, rief Matt aufgeregt, »wenn deine Theorie stimmt, könnte ein Pan in Johns Kirche in Akron mit ihm reden, und John könnte uns weitergeben, was er hört. Wie eine Art Telefon!«
»Du hast recht! Wir könnten miteinander kommunizieren. Von Kirche zu Kirche.«
»Und was ist mit den armen Menschen in den Bibeln?«, fragten Tania empört. »Wir würden aus ihnen … Telefonisten machen?«
Floyd zuckte mit den Schultern.
»Dann hätten sie wenigstens was zu tun!«, meinte er.
»Das ist zynisch!«
Floyd holte die Bibel zurück.
»John aus Akron? Geht es Ihnen gut?«
»Ich glaube schon.«
»Fühlen Sie sich … wie soll ich sagen? Schlecht? Verwirrt?«
»Ich … ich weiß nicht.«
»Ist Ihnen langweilig?«
»Nein.«
»Womit verbringen Sie denn Ihre Tage?«
»Meine Tage? Ich … ich habe keine Tage. Also, ich weiß es nicht.«
Floyd legte die Bibel weg.
»Siehst du?«, sagte er zu Tania. »Sie sind nichts als leere Geister, die in Büchern gefangen sind.«
»Das ist furchtbar«, murmelte sie und ließ sich auf eine Bank sinken.
Matt klatschte in die Hände.
»Lasst uns das Nachtlager aufschlagen. Wir werden hier übernachten.«
»In der Kirche?«, rief Tobias entsetzt.
»Immer noch besser als draußen. Hier sind wir wenigstens vor Regen und Angriffen geschützt …«
»Wo ist eigentlich Amy? Hat sie jemand gesehen?«, fragte Ambre.
Chen schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, sie ist nicht mit reingekommen.«
Alle drehten sich zur Tür um.
»Ich hoffe, dass
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