ALTERRA: Die Gemeinschaft der Drei (PAN) (German Edition)
du gerade gesehen hast, ist auch in Ordnung. Und es gibt ein paar Zicken, Deborah und Lindsey zum Beispiel. Wie das in größeren Gruppen eben so ist.«
»Hast … Hast du nie Angst?«
»Angst? Wovor denn?«
Matt zeigte auf die Wildnis um sie herum.
»Vor dem Ganzen. Vor dem, was uns in dieser neuen Welt erwartet.«
Nach längerem Überlegen antwortete sie:
»Um ehrlich zu sein, mir ist die neue Welt lieber als die alte.«
»Echt?«
Ambre schlug die Augen nieder und ging weiter.
»Mein Stiefvater war ein Arschloch«, sagte sie plötzlich. Ihr harter Ton und der grobe Ausdruck ließen Matt zusammenzucken. »Meine Mutter hatte nichts Besseres zu tun, als sich in den größten Bowling-Proleten der Stadt zu verknallen. Du kannst dir ja vorstellen, wie der drauf war! Leider hat er nicht nur Kegel gekippt, wie meine Tante zu sagen pflegte. Und wenn er getrunken hatte, wurde er aggressiv.«
»Hat er dich geschlagen?«, fragte Matt behutsam.
»Das nicht. Aber er hat meine Mutter verprügelt.« Ambre wandte sich zu ihm um. »Mach nicht so ein Gesicht. Sie hätte ihn jederzeit verlassen können, wenn sie gewollt hätte, aber sie war so verliebt, dass sie ihm alles verzieh, sogar das Unverzeihliche.«
Sie schwiegen lange. Nur das Zwitschern der Vögel war zu hören.
Aus den Augenwinkeln sah Matt, wie sie sich verstohlen eine Träne abwischte, und legte ihr unwillkürlich eine Hand auf die Schulter.
»Lass nur, es geht schon«, sagte sie. »Weißt du, ich glaube, dass in dieser neuen Welt alles möglich ist. Es gibt Platz für alle, jeder kann nach seiner Art und seinen Vorstellungen leben. Man muss nur seinen Platz finden.«
»Und hast du deinen gefunden?«
»Ja. Ich muss noch warten, bis ich sechzehn bin. Dann bin ich alt genug, um Weitwanderer zu werden.«
»Du willst wie sie durchs Land ziehen?«
»Ja. Ich will Nachrichten überbringen, die Veränderungen in der Natur beobachten, unsere Feinde ausspionieren und von Gemeinschaft zu Gemeinschaft ziehen, um von den neuesten Erfindungen zu erzählen.«
»Das ist gefährlich.«
»Ich weiß. Deshalb haben die Pans ja beschlossen, dass man mindestens sechzehn sein muss – sonst hat man keine Überlebenschance. Jeden Monat verschwinden mehrere Weitwanderer spurlos, und jeden Monat melden sich neue Freiwillige. Das finde ich genial.«
Matt war so bedrückt, dass er nichts dazu sagte. Würde er Ambre verlieren? Er wusste schon jetzt, dass es ihm das Herz brechen würde, wenn sie eines Tages die Carmichael-Insel verließ. Hatte Ben ihr diese Flausen in den Kopf gesetzt? Oder wollte sie seinem Beispiel folgen, weil sie ihn … liebte? Matt hätte gern mit ihr darüber gesprochen, aber er war zu schüchtern und marschierte stattdessen schweigend weiter.
Nach zwei Stunden waren Ambre und Matt tief in einen wilden Obsthain vorgedrungen. Während sie die reifen Äpfel ernteten, pfiff Ambre vergnügt vor sich hin. Matt war auf einen Baum gestiegen, pflückte die weiter oben hängenden Früchte und warf sie in den Weidenkorb unter ihm. Sein Schwert hatte er abgeschnallt, um besser klettern zu können. Schwermut ergriff ihn. Seine Eltern fehlten ihm, und noch dazu hatte Ambre ihm vorhin erzählt, dass sie fortwollte. Matt dachte voller Eifersucht an Ben. Warum traute er sich nicht, Ambre darauf anzusprechen? Er könnte doch einfach sagen: »Du, ich wollte dich mal was fragen. Hat dir Ben die verrückte Idee, Weitwanderer zu werden, in den Kopf gesetzt?« Aber er brachte den Mund nicht auf, obwohl ihn tausend Fragen quälten: Was fand sie so toll an ihm? Hatte sie ihn gern? Natürlich hat sie ihn gern! Ich habe ja gesehen, wie sie ihn angehimmelt hat! Sie hing geradezu an seinen Lippen! Matt schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich. Ich sollte mich schämen. All das nur wegen … eines Mädchens.
Schließlich ging ihn das gar nichts an.
Aus den umstehenden Bäumen flog ein Schwarm Vögel auf.
Fliegen … Als Vogel wäre alles viel einfacher! Jedes Mal, wenn mir etwas nicht gefällt, könnte ich abheben und es mir anderswo gemütlich machen. Das ist wahre Freiheit!
Flucht. Eigentlich träumte er immer nur davon zu fliehen. Das war keine Lösung.
Ganz in der Nähe knackte plötzlich ein dicker Ast auf dem Boden. Matt ließ seinen Blick über den Wald schweifen … und erstarrte.
Eine mannshohe Gestalt, die so massig wirkte wie ein Stier, näherte sich Ambre von hinten. Ein Wesen mit hutzligem Gesicht, Hängebacken und winzigen Augenschlitzen unter fetten
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