Alterra. Im Reich der Königin
Seltsames: Die Furchen verschwanden und gaben ein weißes, fast durchsichtiges Auge frei, aus dem ein Blitz hervorschoss. Gleichzeitig öffneten sich die Schlitze in den Köpfen der anderen und entblößten zwei Reihen spitzer gelber Zähne. Die Schattenfresser geiferten.
Als das weiße Auge einen zweiten Blitz schleuderte, warfen sich alle Ungeheuer auf den schmalen Schatten ihrer Beute. Immer wenn ein neuer Blitz aufleuchtete, sah Tobias sie wie wild an dem Schatten zerren, während das Schaf vor Angst wie gelähmt schien.
Nach einer Weile hörten die Blitze auf. Das Schaf lag mit offenem Maul am Boden. Die Schattenfresser zogen ab.
»Was hat das Schaf denn?«, fragte Tobias.
»Es heißt, wenn die Schattenfresser den Schatten eines Lebewesens verschlingen, dann ist es dazu verurteilt, für immer in ihrem kollektiven Bewusstsein zu leben, denn offenbar werden sie alle von ein und demselben Gehirn gesteuert, sie stellen eine Einheit aus vielen Körpern dar. Wer seinen Schatten an einen Schattenfresser verliert, fällt der ewigen Verdammnis anheim!«
»Das ist ja ekelhaft.«
Der Unschuldstrinker gluckste.
Tobias wollte schon in die Gondel zurückkehren, als ihm ein Lichtschein in der Ferne auffiel. In dem Becken hinter dem Wasserfall, fünf Kilometer von Henok entfernt, schimmerte ein helles Pünktchen. Er hob noch einmal das Fernglas an die Augen und erkannte eine kleine Festung, die auf einem Kalkfelsen erbaut war. An der Spitze eines hohen Turms loderte ein Feuer.
»Was ist das für eine Burg da hinten im Tal?«
»Die Zitadelle der Ersten Armee. Solche Festungen stehen überall in Wyrd’Lon-Deis. Das ist die Armee, die von Malronce angeführt wird.«
Tobias schüttelte den Kopf. Es sah den Zyniks ähnlich, dass sie als Allererstes Burgen bauten und Armeen aufstellten.
In einer Welt, die Brücken und Versöhnungsgesten gebraucht hätte, umgaben sich die Zyniks mit Mauern und rüsteten sich zum Krieg.
Scheint, als hätte der Mensch nichts, aber auch gar nichts gelernt,
dachte Tobias bitter.
38. Henok
I m Licht der aufgehenden Sonne leuchtete der Plüsch im Aufenthaltsraum des Zeppelins glutrot. Tobias zupfte an der Sehne seines Bogens und vergewisserte sich, dass er genug Pfeile im Köcher hatte.
»Ich bin so weit«, sagte er.
Ambre stellte sich an das große Bullauge.
»Wir können los, die Schattenfresser sind in ihre Schlupflöcher zurückgekehrt.«
»Du hättest mal sehen sollen, wie sie über dieses arme Schaf hergefallen sind!«, meinte Tobias.
»Was du mir beschrieben hast, reicht mir völlig.«
In diesem Moment kam der Unschuldstrinker herein. Er band gerade den Morgenrock aus schwarzer Seide zu, den er über seiner Kleidung trug. Offenbar hatte er ohne seine Haube aus Wollfilz geschlafen, denn seine verstrubbelten weißen Haare standen in Büscheln vom Kopf ab.
»Was soll denn das werden?«, fragte er erstaunt.
»Wir gehen in die Stadt«, erklärte Tobias. »Wir haben einen Plan, aber keine Sorge, Sie müssen dabei gar nichts tun.«
»Und wie sieht euer famoser Plan aus?«
»Colin kommt mit, damit wir keinen Verdacht erregen. Er wird die Ketten in die Hand nehmen, die wir uns an die Gürtel binden, so werden die Leute uns für seine Sklaven halten.«
Der Unschuldstrinker streckte die Hand nach den Ketten aus.
»Woher habt ihr die?«, fragte er.
»Aus dem Lagerraum«, antwortete Ambre.
»Ihr … Ihr habt in meinen Sachen herumgeschnüffelt?«
Ambre hielt seinem wütenden Blick trotzig stand.
»Mussten wir ja, nachdem Sie uns nicht helfen wollten.«
Sie gab Tobias mit einer Handbewegung zu verstehen, dass es losgehen könne, aber der Unschuldstrinker packte sie blitzschnell am Arm.
»Moment mal. Wo wollt ihr denn in diesem Aufzug hin? Ihr habt doch nicht etwa vor, zu dritt abzuhauen? Was garantiert mir dann, dass ihr zurückkommt und ich euren Freund befragen kann?«
»Wie sollen wir denn ohne Sie die Stadt verlassen?«, fragte Ambre zurück. »Ihr Zeppelin ist unsere einzige Möglichkeit, in den Norden zurückzukehren.«
»Ich bin nicht so vertrauensselig. Nein, mein Fräulein, du bleibst hier bei mir, während dein schwarzer Freund seine Mission erfüllt.«
»Haben Sie ein Problem mit meiner Hautfarbe?«, fuhr Tobias auf.
»Nein, aber du bist doch schwarz, oder?«
»Und Sie sind widerwärtig, aber das sage ich auch nicht laut, also ersparen Sie sich solche überflüssigen Kommentare!«
Tobias öffnete die Luke, doch der Unschuldstrinker hielt Ambre eisern am Handgelenk
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