Alterra. Im Reich der Königin
Schatten der Meduse ist zu groß für die Schattenfresser. Jetzt komm hierher. Da drüben liegt Henok. Du wirst staunen!«
Tobias gingen die Augen über, als er die Landschaft im Süden vor sich sah. Aus dem Wald ragte ein steiler, zerklüfteter Berg, dessen schroffe Felswände so hoch reichten, dass die Spitze in den Wolken verschwand. Der Fluss wurde in dieser Richtung immer breiter, bis er sich am Fuß des Berges teilte. Einer der beiden Arme verschwand in einer riesigen Höhle im Berg, der zweite, größere, in einer weißen Nebelwand.
Dahinter schien die Welt urplötzlich zu Ende zu sein.
Das Gebiet, das sich im Süden erstreckte, lag über fünfhundert Meter tiefer, in einem gigantischen Becken, dessen Rand eine natürliche Barriere bildete.
Da begriff Tobias, woher der Nebel kam: Es war der Dunst über einem gewaltigen Wasserfall.
Der Abgrund, der sich von Ost nach West über den gesamten Horizont erstreckte, schnitt alle Wälder und Hügel und Flüsse und überhaupt alles, was Tobias auf dieser Seite der Bruchlinie vermutete, abrupt ab.
Jenseits davon wirkte die Landschaft rauher und düsterer, und Tobias entdeckte in der Ferne etwas, was wie eine zweite untergehende Sonne aussah, auch wenn das nicht sein konnte.
»Was ist das da hinten?«, erkundigte er sich.
»Das ist Malronce’ Festung, das Herz von Wyrd’Lon-Deis. Der Himmel ist dort immerzu rot. Ich weiß nicht, warum; manche behaupten, es sei das Blut Gottes, das er aus Betrübnis vergießt, um unsere Sünden darin zu ertränken, aber ich sehe es mir lieber nicht aus der Nähe an!«
»Und wo ist Henok, ich sehe keine Stadt?«
»Im Innern des Berges. Die Grotte, in der der Fluss verschwindet, ist einer der Zugänge. Henok ist eine Höhlenstadt.«
Als Tobias das Fernglas noch einmal an die Augen setzte, erkannte er in der Felswand am Fuß des Berges viele kleine Öffnungen und in den Stein gehauene Treppen. An dem Abhang zum Fluss standen einige fensterlose Gebäude.
Einige winzige Gestalten eilten zu den Häusern, die offenbar als Schuppen dienten, und schlossen alle Tore, wobei sie stets auf der noch von der Sonne beschienenen Seite blieben.
Ein Stück weiter trieben zwei Hirten ihre Schafe durch eine Falltür in den Berg und brachten einige versprengte Nachzügler mit Stockschlägen dazu, schneller zu laufen.
Gleich darauf waren alle Zugänge geschlossen, alle Menschen und Tiere verschwunden. Der Strahlenkranz der Sonne lugte noch kurz hinter dem Berg hervor, dann ging sie endgültig unter.
Eine unheimliche Stille trat ein.
Kein Vogel sang, kein Lüftchen wehte mehr.
Die Natur schien den Atem anzuhalten.
Da kamen sie aus ihren Löchern.
Im Dämmerlicht des Abends schlüpften die Schattenfresser aus ihren Nestern am Berggipfel und schossen so schnell die Felswand hinunter, als ginge es um Leben oder Tod. Sie hatten eine längliche, dreieckige Gestalt und waren etwas größer als ein ausgewachsener Mensch. Verblüfft stellte Tobias fest, dass sie nicht über den Boden glitten, sondern mit ausgebreiteten Flügeln knapp darüber schwebten. Am Fuß des Berges zogen sie die Flügel ein, landeten in der Wiese und richteten sich stocksteif auf. Hager und reglos wie tote Baumstämme standen sie da, nur ihre weißen Köpfe drehten sich hin und her. Kahle Schädel mit großen gelben Augen und einem klaffenden Schlitz anstelle eines Mauls. Durch die kreisrunden Linsen seines Fernglases kamen sie Tobias wie Gespenster vor.
Wie muss es erst sein, wenn man direkt vor ihnen steht!
»Ah, gleich wird es interessant«, freute sich der Unschuldstrinker.
Ein Schaf, das den anderen nicht rechtzeitig gefolgt war, wartete vor einer der Falltüren und scharrte mit den Hufen.
Kaum hatten die Schattenfresser seine Witterung aufgenommen, fuhren sie an den Füßen lange Klauen aus, mit denen sie auf ihre Beute zustakten.
»Es ist schon zu dunkel, da wirft das Schaf doch keinen Schatten mehr«, dachte Tobias laut. »Warum heißen sie dann Schattenfresser?«
»Du wirst schon sehen«, erwiderte der Unschuldstrinker. Er schien das schaurige Spektakel kaum noch erwarten zu können.
Von oben stürzten sich weitere Schattenfresser den Berg hinab und schwebten mit ausgebreiteten Flügeln auf das Schaf zu.
In Sekundenschnelle war das arme Tier umzingelt; es spürte die Gefahr und scharrte noch heftiger an der Falltür.
Die Schattenfresser zogen den Kreis um ihr Opfer immer enger.
Einer von ihnen richtete sich drohend auf, und auf seiner Stirn tat sich etwas
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