Alterra. Im Reich der Königin
fest.
»Sie bleibt an Bord, oder ich lasse keinen von euch gehen«, sagte er in einem so drohenden Ton, dass Tobias angst und bange wurde.
»Ich werde nicht …«
Der Unschuldstrinker fiel ihm fast schreiend ins Wort:
»Keine Diskussionen! Sonst wende ich den Zeppelin sofort!«
Ambre kaute auf ihrer Unterlippe, dann nickte sie Tobias zu und nahm die Bedingung mit einem Seufzen an.
Der Zeppelin hielt über den Schuppen an, neben denen ein hölzerner Turm stand. Als Colin die Leinen hinunterwarf, eilten drei Männer herbei und schlangen sie um mehrere schwere Felsbrocken, woraufhin die Gondel langsam Richtung Boden sank, bis die Luftschleuse des Zeppelins und die oberste Plattform des Turms auf gleicher Höhe waren. Von dort wurde eine kleine Landungsbrücke zu ihnen hinübergeschoben. Tobias drehte sich noch einmal um und legte seinen Bogen und seinen Köcher vor Ambre ab.
»Was soll denn das?«, fragte sie erschrocken.
»Ohne dich treffe ich sowieso nicht.«
»Sag das nicht.«
»Wir dürfen uns nichts vormachen, ich bin zwar schnell, aber ich kann nicht zielen.«
»Nimm sie mit und vertrau dir.«
»Ich kenne mich doch, ohne dich schieße ich garantiert daneben!«
»Nimm sie mit, habe ich gesagt.«
Ambre hob die Waffe auf, drückte sie ihm in die Hand und fügte im Flüsterton hinzu:
»Ich zähle auf dich. Lass mich bitte nicht zu lange allein mit ihm, okay?«
»Versprochen.«
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, und Tobias fühlte sich plötzlich, als könne er Berge versetzen.
Colin nahm die Kette in die Hand, als würde er Tobias an der Leine führen, und sie traten ins Freie.
Unten vor dem Turm warteten einige Zyniks, die sie neugierig anstarrten. Ein großer Mann mit blonden Haaren trat auf sie zu und wies auf Tobias:
»Bringst du uns einen Sklaven? Den könnten wir hier gut gebrauchen!«
»Oh ja«, bekräftigte ein anderer und kratzte sich den fetten Bauch, über den sich sein Leinenhemd spannte. »Arbeit gibt’s genug!«
»Er ist schon reserviert«, wehrte Colin ab und ging schnell auf eine Falltür im Berghang zu, durch die sie auf eine Treppe gelangten.
Entlang der in den Fels gehauenen Stufen, die steil in die Tiefe führten, hingen in regelmäßigen Abständen Lampen an der Wand, die den beißenden Geruch von brennendem Tierfett verströmten.
Plötzlich endete die Felswand zu ihrer Rechten, wo nun ein einfaches Seil als Geländer diente, und sie stiegen in eine gigantische Höhle hinab, in der sich am Ufer eines schwarzen Sees die Stadt Henok erhob.
Weißgetünchte Häuser mit Dachterrassen und Kuppeln, enge, verwinkelte Gassen, steinerne Bogen und Innenhöfe, kleine Plätze mit Springbrunnen, eine überdachte Markthalle und überall Laternen, deren Lichter funkelten wie die Sterne der Milchstraße. Die Stadt erinnerte Tobias an das marokkanische Dorf, das er vor dem Sturm bei einem Freund auf Fotos gesehen hatte. Ein in ewige Dunkelheit getauchtes marokkanisches Dorf.
»Unglaublich …«, sagte er, ohne den Blick abwenden zu können. »Das haben die Zyniks gebaut?«
»Ja. Wenn sie wollen, bringen sie echte Wunder zustande, was? Die Stadt ist gerade erst fertig geworden. Und das Tollste sieht man von hier aus gar nicht. Am anderen Ende des Sees haben sie einen gewaltigen Tunnel gegraben, in dem die Schiffe an Ketten aufgehängt werden, die fettesten Ketten, die man sich vorstellen kann! Die Wasserkraft aus dem Fluss, der dort Hunderte Meter in die Tiefe rauscht, treibt ein kompliziertes System aus Turbinen und Zahnrädern an, mit dem sie die Schiffe den Tunnel hinunterbefördern. So werden sie auch die
Charon
ins Tal transportieren.«
»Wie lange dauert das?«
»Das Befestigen der Ketten dauert mindestens drei bis vier Stunden, und der Transport durch den Tunnel bestimmt noch mal so lange. Meistens erledigen sie das nachts.«
»Und was machen die Passagiere währenddessen?«
»Sie nehmen einen Tunnel, der parallel dazu verläuft, eine ewig lange Treppe, für die man mindestens zwei Stunden braucht! Die Zyniks nennen sie die Treppe der Leiden, weil der Abstieg so anstrengend und gefährlich ist.«
»Okay, zeig mir den Weg, den Matt einschlagen wird, ich will alles sehen, von der Anlegestelle bis zur Treppe.«
Bevor sie die Straßen der Stadt betraten und den ersten Zyniks über den Weg liefen, nahm Colin den Bogen an sich, um seine Rolle noch überzeugender zu spielen, und mahnte Tobias:
»Vergiss nicht, der Nabelring macht dich völlig apathisch. Du ergreifst keine
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