Altes Herz geht auf die Reise - Roman
sondern wird nur vertan; wie von Stillfritz, der es nur vertrinkt –?«
»Oh, mein Kind, mein Kind«, rief der Professor traurig. »Wie schnell bist du fertig mit deinem Urteil über die andern, über die lieben Eltern, über alles! Der Stillfritz ist heute der einzige gewesen, der daran gedacht hat, deinem verhungerten Philipp eine Suppe zu geben …«
Sie schwieg.
»Warum sind wir hier? Mit welchem Recht sind wir hier?« fragte er wieder. »Ich muß das jetzt wissen.«
Sie sah ihn an. Sie war ein Mädchen, ein Kind nur, Klage und Anklage war in ihrem Blick, Trauer … Etwas regte sich in seinem alten Herzen, das er nie gekannt, »Holdselig keit …«, dachte er … »ER hat auch die Kinder geliebt, sie stehen seinem Reich am nächsten …« Das kam und ging, aber die Wärme blieb und wurde stärker, als er ihr die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Ich bin hungrig und sehr müde – und ihr werdet es auch sein. Es ist tiefe Nacht. Aber besser wäre es uns, auf dem Weg zum nächsten Gasthaus liegenzubleiben, als ungerecht hier zu verweilen.«
Sie hatte auch die Wärme gespürt, das nahe Gefühl, die echte menschliche Bekümmertheit. »Aber wir dürfenwirklich bleiben, Pate«, sagte sie sanft. »Da reichen keine zwanzigmal, daß Frau Vogel mir gesagt hat: ›Wenn du es gar nicht aushältst, Rosemarie, kommst du zu mir. Ich will dir mit allem und in allem helfen.‹ Und es ging
uns
doch ganz schlecht«, sagte sie, und ein leises Lächeln kam in ihr Gesicht, ein leises, schalkhaftes Lächeln. »Und ich bin doch nun hier bei ihr zu Gast …?«
»Ich hoffe, es ist alles richtig«, murmelte der Professor und sah unsicher auf das Mädchen.
»Sie würde bestimmt nichts dagegen haben!«
»Aber ich –? Und der Junge –?« fragte der Professor noch einmal.
»Ach, ihr!« rief sie, fast übermütig, »ihr gehört doch zu mir! Und schließlich, Pate, wenn du willst, kannst du es ihr ja später in Berlin bezahlen.«
Er atmete tief auf. »Richtig«, sagte er erlöst, »richtig! Daß ich doch nie an das Geld denke! Frau Stillfritz mußte mich heute mittag auch erst an das Bezahlen erinnern. Du wirst mich an diese Schuld erinnern, Rosemarie, ehe wir uns trennen?«
»Das werde ich!« lachte sie. »Aber ich denke immer, wir trennen uns noch lange, lange nicht. Du weißt ja, Pate, was du überlegen wolltest. Und eigentlich möchte ich, daß du nicht nur mein Vormund, sondern auch mein Pflegevater würdest!«
»O Gott!« sagte er, wieder einmal sehr erschrocken. »Nein nein, Rosemarie«, meinte er dann. »Nicht so hastig. Das müssen wir alles lange bedenken und verständige Leute darum befragen. Ich weiß auch gar nicht, ob dir Berlin gefallen würde …«
»Ja«, sagte sie nachdenklich und gestand nicht, daß sie an keinen Pflegevater in Berlin, sondern an einen auf ihrem Unsadeler Hof dachte, statt des Päule, trotzdem das eigentlich kaum auszudenken war.
»Eten fertig!« mahnte Philipp.
»Gleich!« sagte sie. Sie sah ihn noch einmal an, wie er da vor dem Kaminfeuer saß, den Kopf müde auf der Brust – und eigentlich sieht so keine sechzehnjährige Tochter ihren bald siebzigjährigen Pflegevater an, sondern eine Mutter ihr hilfloses Kind.
So half sie ihm auch beim Essen – und ein etwas seltsames Essen war es, denn die vorgefundenen Vorräte waren nicht sehr ausgiebig gewesen. Es gab eine Erbssuppe von Erbswurst und rosa Pudding von Puddingpulver – und der Professor aß alles auch brav, trotzdem er nicht ganz sicher war, daß es ihm auch bekommen würde. Es war alles gar nicht wie bei der Witwe Müller. Sie aber half mit ihrem Geplauder, daß er lächelte und sich wohl fühlte.
Als dann der Professor wieder warm mit seiner Bibel am Kamin saß, flüsterte sie beim Abwaschen heimliche Worte mit Philipp, und lautlos verschwand der Junge aus dem Waldhaus in die Nacht.
Dann kehrte sie nach getaner Arbeit zu dem alten Mann zurück, setzte sich auf ein Bänkchen zu seinen Füßen und faßte zart seine Hand. Er sah von seinem Buch einmal zu ihr hin und lächelte. So saßen sie still beieinander, die Flammen lohten, sangen und prasselten, und allmählich wurde der Professor Kittguß sehr müde, sein Buch sank in den Schoß, er schlief ein.
Sie saß weiter still vor dem Feuer, die alte Hand des Schläfers in ihrer jungen, wachen: sie sah in das Feuer, und seit vielen, vielen Tagen war es in ihrem Leben die erste Abendstunde, da keine harte Stimme scheltend ihre müden Füße zur Arbeit trieb.
Sie wußte, es
Weitere Kostenlose Bücher