Alteuropa-Trilogie 2 - Die Schmetterlingsgöttin
Augen; aber als sie schluckte, spürte sie nichts –nur Dunkelheit und ein seltsam brummendes Geräusch.
Sie zuckte erschrocken zusammen und kämpfte sich aus den Tiefen des Schlafes in die Wirklichkeit zurück. Ihre Lider flatterten, und sie ballte stöhnend die Hände zu Fäusten. Als sie die Augen aufschlug, befand sie sich nicht im Langhaus ihrer Urgroßmutter, sondern in einer kleinen Höhle, die von kaltem, bläulichem Licht erfüllt war. Auf ihrer linken Seite lag Stavan zu einem warmen Bündel zusammengerollt und schnarchte leise. Rechts von ihr lag ihr Bruder Arang an Hiknak gekuschelt, die sich wiederum eng an Dalish geschmiegt hatte.
Einen kurzen Moment überfiel Marrah völlige Verwirrung. Warum schliefen sie alle so dicht aneinandergedrängt? Wo waren sie hier eigentlich? Wieso hing das Dach über ihrem Kopf so tief und weiß herab? Dann kehrte die Erinnerung zurück und mit ihr die schreckliche Furcht, die ihre Eingeweide wie ein scharfes Messer durchschnitt.
Sie waren in der Schneehöhle, die Stavan in der vergangenen Nacht gebaut hatte. Die Höhle stellte ein geniales Werk dar, etwas, das zu bauen sie niemals die Klugheit oder die Erfahrung besessen hätte: nichts weiter als ein großer Haufen Schnee von der anderthalbfachen Länge eines Mannes, den Stavan eine Weile hatte erstarren lassen, bevor er ihn aushöhlte, mit einem Luftloch in der Decke und einem kleinen Eingang, der jedoch etwas tiefer in den Boden gegraben war, um die Kälte abzuhalten.
Die Höhle bot nicht sonderlich viel Platz für fünf Personen; aber nachdem sie sich in ihre pelzgefütterten Umhänge gerollt und den Kopf auf ihre Satteltaschen gelegt hatten, entwickelten ihre Körper soviel Wärme, daß Marrah das Haar vor Schweiß im Nacken klebte. So warm indessen die Schneehöhle auch war, würde sie dennoch keinerlei Schutz bieten, wenn die Nomaden sie aufspürten.
Marrah lag einen Moment still da, während sie sich einzureden versuchte, der Sturm hätte ihre Spuren so gründlich verwischt, daß nicht einmal die besten Hansi-Kundschafter sie finden könnten; aber im grauen Zwielicht des frühen Morgens schien das inzwischen noch unwahrscheinlicher als in der Nacht zuvor.
Ängstlich horchte sie auf irgendein Geräusch, das darauf hindeutete, daß sie entdeckt waren; doch alles, was sie vernahm, war Stavans beruhigendes Geschnarche. Erleichtert entspannte sie sich wieder und drehte sich auf die Seite, um noch eine Weile zu schlafen; aber trotz der Müdigkeit und Erschöpfung wollte sich der Schlummer nicht einstellen.
Sie waren jetzt seit fast fünf Tagen auf der Flucht, seit dem Tag von Zuhans Begräbnis; nur um Haaresbreite hatte das Schicksal sie und Stavan und Dalish verschont, stranguliert und in das Grab hinuntergestoßen zu werden, um als eine Opfergabe für den Himmelsgott der Nomaden zu dienen. Die Abdrücke der Lederschnüre, mit denen sie an den Pfahl am Rande des offenen Grabes gefesselt worden war, konnte sie noch immer an ihren Handgelenken sehen, und als sie auf Stavans Schnarchen horchte, dachte sie erneut voller Dankbarkeit, daß sie wohl kaum das Glück erhalten hätte, neben dem Mann ihrer Wahl zu ruhen, wenn Hiknak nicht das Pulver der Unsichtbarkeit in den Kersek der Nomaden geschüttet hätte. Ohne Hiknak wäre sie zur Göttin Erde zurückgekehrt mit Schlamm im Mund und einer Bogensehne um den Hals wie Akoah, die kleine Seglerin, und jene armen Sklavinnen, die Changar so brutal ermordet hatte.
Bei dem Gedanken an Changar, den Wahrsager und Priester der Hansi, wurde Marrahs Furcht von einem Gefühl grimmiger Befriedigung verdrängt. Nie wieder würde Changar im Namen seines verfluchten Gottes hilflose Frauen und Kinder abschlachten. Denn Changar war tot. Sie hatte ihn ausrutschen und in Zuhans offene Grabkammer hinunterstürzen sehen. Ohne Zweifel hatte er sich bei dem Aufprall in der Steingrube das Genick gebrochen. Ein Glück, daß wir den los sind, dachte sie, und gleich darauf schämte sie sich für den Gedanken.
Marrah schloß die Augen und bat die Göttin in einem stummen Gebet, sie versöhnlicher zu stimmen. Es war unrecht, einen anderen Menschen mit solcher Intensität zu hassen, selbst jemanden, der so grausam gewesen war und soviel Unheil gestiftet hatte; aber falls die Göttin die Herzen der Menschen an diesem Morgen in Milde versetzte, so gehörte ihres nicht dazu.
Als sie erneut die Augen öffnete, war sie weiterhin höchst einverstanden mit Changars Tod; sie hoffte nur inständig, daß
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