Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
geraten.
»Ich glaube, wir brauchen dringend Schlaf«, stieß Luma zwischen zusammengepreßten Lippen hervor.
Keshna sagte überhaupt nichts. Sie starrte Luma nur weiterhin böse an. Da es keinen Zweck hatte, Frieden mit ihr schließen zu wollen, wenn sie in einer derart gereizten Stimmung war, stand Luma auf und begann, Blätter zu einem Haufen aufzuschichten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Keshna das gleiche tat. Gewöhnlich schliefen sie Seite an Seite, aber in jener Nacht bereiteten sie ihre Lager gut zwanzig Schritte voneinander entfernt. Irgendwann kurz vor Tagesanbruch hatte Luma einen seltsamen Traum. Er war ziemlich verworren und formlos, doch sie wachte plötzlich auf und hatte das beklemmende Gefühl, jemand beobachte sie heimlich. Ein Frösteln überlief sie, und sie tastete instinktiv nach ihrem Dolch und drehte vorsichtig den Kopf, aber es war niemand zu sehen. Keshna schlief tief und fest auf ihrem Blätterhaufen und schnarchte leise. Die dunklen Stellen zwischen den Bäumen waren leer, und die Blätterschicht auf dem Erdboden war mit kleinen Tauperlen übersät. Das kleine Stückchen Himmel über ihr hatte die Farbe einer Austernmuschelschale.
Wo sind die Vögel? dachte Luma. Die Vögel müßten doch singen! Alarmiert richtete sie sich auf, doch noch bevor sie von ihrem Lager aufstehen konnte, erhob sich plötzlich ein ganzer Chor von Vogelstimmen aus dem Wald. Sie legte sich wieder zurück, beruhigt, daß alles in Ordnung war.
Sie schloß die Augen und versuchte wieder einzuschlafen, doch der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Schließlich gab sie es auf, erhob sich gähnend von ihrem Lager, pflückte ein paar welke Blätter von ihrer Tunika und machte sich auf die Suche nach Wasser, das sauber genug war, um davon zu trinken. Sie war noch keine hundert Schritte weit gegangen, als sie auf einen Bach stieß. Wie alle Bäche in der Nähe des Deltas war auch dieser trübe und das Wasser fast lauwarm. Sie schöpfte etwas Wasser mit den Händen und stillte ihren Durst, dann watete sie in den Bach hinein und wusch sich so sauber, wie es ging. Der Schlamm, der an ihren Leinenbeinlingen haftete, bildete braune Spiralen im Wasser. Sie stand eine Weile da und beobachtete, wie der Schmutz in trüben Wolken stromabwärts wirbelte, dann watete sie ein Stück stromaufwärts, wo das Wasser klarer war, trank ausgiebig davon und machte sich schließlich erfrischt wieder auf den Rückweg zu der kleinen Lichtung, wo Keshna noch schlief.
Sie hatte die Angewohnheit, sich völlig geräuschlos zu bewegen. Kein Zweig zerbrach knackend unter ihren Füßen, kein Stein kollerte polternd davon, um ihre Anwesenheit zu verraten. Sie versuchte nicht bewußt, leise wie ein Kundschafter zu gehen, und dennoch tat sie es; und ihr lautloser Gang rettete ihr wahrscheinlich das Leben, denn als sie zu der Lichtung zurückkam, sah sie, daß schon jemand vor ihr dort angekommen war.
Hastig ging sie in einem kleinen Weidengehölz in Deckung und kauerte sich hinter die Blätter, wobei sie kaum zu atmen wagte. Ein Nomadenkrieger glitt langsam auf Keshna zu, die noch immer schlief und nichts von seiner Anwesenheit ahnte. Der Mann war mittelgroß, hatte breite Schultern und ein kantiges, energisches Kinn; er sah ausgesprochen gefährlich aus. Er trug sein Haar lang und mit einer Lederschnur im Nacken zusammengebunden; und obwohl Luma die üblichen Goldringe in seinen Ohren glitzern sehen konnte und die eintätowierten Blitze auf seinen Wangen, waren seine Tunika und die Beinlinge aus schwarzem Filz gefertigt. Der Filz war kein Sommerstoff, sondern steif und dick, aus schwerer Wolle gepreßt und an einigen Stellen eingerissen und schmutzig vom langen Tragen. War dies eine Wache aus Mahclah oder ein Steppennomade, der erst kürzlich in die Mutterländer gekommen war? War er allein oder hatte er noch andere Krieger mitgebracht?
Plötzlich drehte sich der Krieger halb herum, und Luma sah, daß er seinen Dolch mit der rechten Hand umklammert hielt und den Arm hob, um zuzustechen. Sie hatte keine Zeit, sich zu überlegen, was sie tun sollte. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Luma ihren eigenen Dolch aus der Scheide und stürzte sich auf den Krieger.
Sie hatte gehofft, ihn in den Rücken zu stechen und ihn zu verkrüppeln oder mit einem einzigen Dolchstoß zu töten, aber er mußte sie gehört haben, denn im allerletzten Moment wich er mit einem raschen Sprung zur Seite aus, so daß die Klinge ihres Dolches durch den Ärmel
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