Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Lächeln verblaßte. »Willst du damit etwa sagen, daß du keine Jungfrau mehr bist?« fragte er auf hansi, und Luma bemerkte, daß seine Sprechweise auch in dieser Sprache leicht undeutlich und verschwommen war. Die Silben schienen übereinander zu stolpern, klangen schleppend und schwerfällig. Ob er wohl betrunken war? »Willst du das damit sagen?« wiederholte er.
Sie zuckte die Achseln und nickte. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, und seine Miene erstarrte zu dem grimmigen Ausdruck eines Nomadenkriegers. »Das ist nicht gut«, erwiderte er. Er wies auf Keshna. »Es ist mir völlig egal, ob meine Cousine mit zehn Männern, zwei Hengsten und einem ganzen Rudel von Hunden geschlafen hat; aber du bist meine Schwester.« Luma wurde klar, daß sie – und nicht etwa Keshna – diejenige war, die es geschafft hatte, ihn zu verärgern. Was sollte sie jetzt bloß sagen?
»Keru, erinnerst du dich nicht mehr daran, wie wir in Shara leben? Die Göttin Batal hat uns Liebe als eine heilige Gabe geschenkt. Männer und Frauen wählen ihren ersten Partner an dem Tag, an dem sie volljährig werden. Es gibt im Sharanischen nicht einmal ein Wort für ›Jungfrau‹. Wie konntest du da erwarten ...«
»Wie heißt er?«
Was?« Seine Frage schien wie aus dem Nichts zu kommen, wie ein Stein, der klatschend im Schlamm landet.
»Ich habe gesagt: ›Wie heißt er?.
» Er heißt Kandar. Er ist unser Cousin – Großtante Tarrahs Sohn. Ein guter Mann.« Sie versuchte, sich etwas einfallen lassen, womit sie Keru beeindrucken könnte. »Kandar ist auch ein tapferer Krieger. Erinnerst du dich an ihn?«
»Nein. Hat dieser Hurensohn dich mit Gewalt genommen?« »Natürlich nicht. Er und ich ...«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Mutter steckt dahinter, stimmt's?«
»Mutter? Wovon redest du eigentlich?«
Sie mußte ebenso bestürzt und verwirrt ausgesehen haben, wie ihr zumute war, denn plötzlich wich der Zorn aus seinem Gesicht, und er griff beschwichtigend nach ihrer Hand. »Arme Lupula. Haßt Mutter dich auch?« Tätschel, tätschel. Als ob sie ein Hund ader ein kleines Kind wäre. »Kümmere dich nicht um diesen Mann, diesen Kandar. Ich werde ihn aufspüren und töten und deine Schande tilgen. Der Krieger, der dich zur Ehefrau nimmt, wird dich mit all der Ehrerbietung heiraten, die einer Jungfrau gebührt. Dafür werde ich sorgen. Und was Mutter betrifft ...« Er ließ ihre Hand los. »Du mußt es so machen wie ich und dein Herz gegen sie verhärten.«
Luma ertrug es nicht mehr, wie er sich ihr gegenüber verhielt: In der einen Minute war er ihr Bruder, und in der nächsten benahm er sich wie ein völlig Fremder. Es war, als lebten zwei verschiedene Männer in seinem Körper. Sie dachte an die Geschichte von dem Seelenfresser und schauderte unwillkürlich. »Keru!« rief sie verzweifelt. »Mutter haßt keinen von uns beiden. Sie liebt mich, und sie liebt dich. Sie ist fast vor Gram gestorben, als Changar dich zum zweiten Mal entführte.«
Er schüttelte den Kopf, seine Augen wurden wieder ganz schmal, und wieder verwandelte er sich in den grimmigen Nomadenkrieger. »Onkel Changar hat mich nicht entführt. Er hat mich gerettet. Du bist diejenige, die sich nicht mehr erinnern kann. Mutter hat mich gehaßt; sie wollte mich dem Schlangenvogel opfern.«
»Das ist eine Lüge, Keru. Changar hat dich all die Jahre über belogen. Mutter ...«
»Laß uns nicht mehr über sie sprechen.«
»Wir müssen über sie sprechen. Du mußt endlich begreifen, daß ...«
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und drückte ihre Schläfen zwischen seinen Handflächen. Zum ersten Mal hatte sie wirklich Angst vor ihm. »Mutter hat dich mit dem Fluch des Vergessens belegt. So, wie sie es auch mit mir gemacht hat. Aber Onkel Changar ...«
»Nenn diesen Mann nicht ›Onkel‹!«
Plötzlich ließ Keru ihren Kopf los und blickte sie voller Mitleid an. In diesem Moment war er wieder er selbst. Bruder, Fremder; Fremder, Bruder – Luma hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden. »Du kennst Onkel Changar nicht, aber das ist nicht deine Schuld.« Er strich ihr so zärtlich mit einem Finger über die Lippen, daß sie fast in Tränen ausgebrochen wäre. »Mit der Zeit wirst du die Wahrheit erkennen. In der Zwischenzeit überlaß ruhig alles mir. Du bist meine Schwester. Ich liebe dich, Lupula, und ich werde mich um dich kümmern und für dein Wohl sorgen. Ich werde ...«
Luma packte sein Handgelenk und schob seine Hand fort. Sie waren erst seit wenigen
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