Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
aller Kraft, aber er hätte ebenso schlecht gezielt wie Keshna. Der Dolch verfehlte das Loch, und die Klinge bohrte sich mit einem dumpfen Aufschlag in den Stamm der Weide.
»Arshak!« knurrte Keru. Luma hatte den Fluch noch nie zuvor gehört, aber Keshna schien seine Bedeutung zu kennen, denn sie fing an zu lachen.
»Pech, mein Junge«, sagte sie. »Wie wär's mit einem zweiten Versuch?«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Keru grimmig. Er marschierte zu dem Baum, zog den Dolch aus dem Stamm, marschierte zu Keshna zurück und reichte ihr die Waffe mit finsterem Blick. Luma sah seinen Gesichtsausdruck und dachte, daß bei den Hansi Spiele niemals nur bloße Spiele waren, sondern immer eine Art Kampf, bei dem es um irgend etwas Wichtiges ging. Gewöhnlich stand dabei nur der Stolz eines Mannes auf dem Spiel, aber manchmal hing auch ein Menschenleben davon ab, wer gewann und wer verlor. Marrah hatte ihr einmal erzählt, daß sich die Hansi-Krieger während der Mittsommerspiele zu Ehren von Han Kämpfe auf Leben und Tod lieferten; und es gab Gerüchte, daß die Nomaden in langen Winternächten, wenn sie sich langweilten, nicht davor zurückschreckten, um ihre Köpfe zu spielen. Luma schloß die Augen und betete, daß Keshna ihr Ziel verfehlte und Kerus Stolz rettete.
Wenn Keshna den Vorsatz hatte, absichtlich zu verlieren, dann ließ sie sich das nicht anmerken. Sie machte ein großes Getue, atmete mehrmals tief durch, schaukelte von einem Fuß auf den anderen und formte aus Daumen und Zeigefinger einen Kreis, durch den sie hindurchstarrte, als versuche sie, den Durchmesser des Loches zu berechnen.
»Nun mach endlich«, knurrte Keru. »Wenn du noch länger herumtrödelst, wachsen die Enden des Zweigs zusammen.«
Keshna grinste ihn an, hob ihren Dolch und schleuderte ihn plötzlich in einer raschen, fließenden Bewegung auf die Weide. Der Dolch überschlug sich einmal in der Luft und schoß zu Lumas Verblüffung geradewegs durch das Zweigloch hindurch.
»Reines Glück!« brüllte Keru.
»Glück oder nicht, du schuldest mir ein Schlachtroß!« »Das Spiel ist noch nicht vorbei.«
»Gib's auf, Junge. Du kannst es nicht mit mir aufnehmen!« Keshna eilte zu dem Baum, hob den Dolch vom Boden auf und brachte ihn mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht zurück. »Paß auf, daß du dich nicht schneidest«, warnte sie Keru, als sie ihm den Dolch reichte.
Der Blick, den er Keshna zuwarf, hätte einen Bären auf zwanzig Schritt töten können. Wieder zielte er sorgfältig, und dann schleuderte er den Dolch, diesmal jedoch mit ganz leichter Hand, so, wie man einen Zweig in einen Korb werfen würde. Der Dolch schien durch die Luft zu schweben. Er überschlug sich nicht wie Keshnas Dolch, sondern flog in gerader Linie und schoß direkt durch die Mitte des Ziels hindurch.
»Unentschieden! « rief Luma, aber sie hätte sich die Mühe sparen können. Keshna und Keru starrten einander nicht länger wütend an.
»Sieht ganz so aus, als wären wir einander ebenbürtig«, sagte Keru. Er hob eine Hand und kratzte sich mit übertriebener Lässigkeit im Nacken.
»Richtig«, pflichtete Keshna ihm bei. »Keiner schuldet dem anderen ein Schlachtroß.«
»Wie hast du gelernt, einen Dolch in einer solchen Schleife zu werfen?«
»Übung. Wie hast du gelernt, ihn so gerade zu werfen?« »Übung. Zeig mir deine Wurftechnik.« Und Keshna zeigte sie ihm.
Luma entspannte sich, lehnte sich zurück und beobachtete die beiden, wie sie sich gegenseitig beibrachten, wie man einen Dolch schleudert. Als beide es ein zweites Mal geschafft hatten, den Dolch durch das Loch zu werfen, lachten und scherzten sie miteinander und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken wie alte Freunde.
Schließlich, wurden sie des Spiels überdrüssig, und Keshna ließ sich neben Luma auf den Boden plumpsen, während Keru in den Wald ging, um sein Schlachtroß zu holen. Solange sie ihn sehen konnten, rekelten sie sich auf den weichen Blättern und unterhielten sich betont beiläufig über Dolch und Ziele, aber sobald er außer Sicht (und ein gutes Stück außer Hörweite) war, begannen sie aufgeregt miteinander zu flüstern.
»Du solltest schleunigst von hier verschwinden, bevor er zurückkommt«, sagte Luma. »Reite nach Shara und sag Mutter und Aita Stavan, daß wir ihn gefunden haben.«
»Was ist mit dir?«
»Mein Knöchel ist dermaßen verstaucht, daß ich nicht auftreten kann. Ich hätte keine Chance.«
»Vergiß es. Wenn ich gehe, dann gehst du mit mir. Ich
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