Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Augenblicken wieder zusammen und schon tat sich eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen auf, als stünden sie auf beiden Seiten eines breiten Tals und riefen einander völlig verschiedene Versionen der Wahrheit zu. »Keru! « flehte sie. »Du hast alles vergessen. Weißt du nicht mehr, was in den letzten vierzehn Jahren passiert ist? Weißt du nichts von den Überfällen auf Shara? Ranala – die Cousine unserer Mutter – wurde bei dem Hinterhalt getötet; ein ganzer Verband von sharanischen Kriegern wurde brutal abgeschlachtet, und hinter all dem steckte Changar. « Sie betete innerlich, daß ihre Worte zu ihm durchdrangen, flehte Batal an, nicht zuzulassen, daß er sich vor ihren Augen wieder in einen Fremden verwandelte. » Changar hat dich der Familie geraubt, die dich liebt, und dann hat er versucht, uns alle umzubringen. Er wollte meinen Kopf. Er wollte meinen Schädel mit Gold füllen. Kannst du mir verraten, wie der ›liebe Onkel Changar‹ das erklärt hat?«
»Ach, das«, meinte Keru wegwerfend. »Onkel Changar hat mir alles darüber erzählt. Du irrst dich. Es war nicht dein Kopf, den er haben wollte, sondern Driknaks. Wegen irgendeines alten Streits mit ihrem Vater, der schon ewig zurückliegt. Die Sache ging mich nichts an. Am Ende brachten ihm diese dämlichen Häuptlinge den falschen Kopf, und er mußte sie hinrichten. Pure Zeitverschwendung, wenn du mich fragst. Andererseits habe ich noch nie etwas für eiskalte Rache übriggehabt. Ich mag sie nur frisch serviert.«
Luma fühlte, wie ein eisiger Schauder sie überlief. Diesmal hatte sich sein Gesicht nicht verändert. Er sah noch immer aus wie Keru, aber die Worte, die aus seinem Mund kamen, waren so schrecklich verdreht, daß sie das Gefühl hatte, Changar spräche aus ihm. »Die Sache ging dich nichts an?« rief sie entsetzt. »Aber Driknak ist deine Schwester! «
»Nicht wirklich. Sie hat keinen Tropfen von Vlahans Blut in den Adern. «
Luma fühlte, wie die Welt um sie herum in Stücke brach. Nichts ergab mehr einen Sinn. Mit Keru zu sprechen war, als versuchte man, mit einem Wahnsinnigen zu reden. »Vlahan? Was hat denn Vlahan mit all dem zu tun?«
»Ich dachte, du wüßtest Bescheid, Lupula.«
»Worüber sollte ich denn Bescheid wissen?«
Er seufzte. »Dann hat Mutter dir also auch das verschwiegen. Das wundert mich nicht. Onkel Changar hat gesagt, sie hätte jegliches Schamgefühl verloren. Vlahan ist unser Vater.«
Luma packte ihn am Halsausschnitt seiner Tunika und schüttelte ihn behutsam, so, wie sie ihn früher, als sie noch Kinder waren und dieselbe Schlafmatte geteilt hatten, morgens immer wachgerüttelt hatte. »Keru, was hat Changar dir angetan? Hat er dich verhext? Stavan ist unser Vater, Keru. Nicht Vlahan.
Stavan. «
Einen Moment lang sah er aus, als habe er sie gehört und glaube ihr. Dann glitt ein Schatten über sein Gesicht, und seine Augen wurden glänzend und groß wie Fächer, von einer unsichtbaren Hand geöffnet. »Vlahan ist unser Vater«, erklärte er. Und ganz gleich, wie angestrengt Luma versuchte, ihn von der Wahrheit zu überzeugen, er beharrte darauf, daß sie sich irrte.
Da wußte sie, daß sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten: etwas Schreckliches war mit ihm passiert. Vielleicht hatte er den Verstand verloren, vielleicht hatte Changar tatsächlich seine Seele gefressen. Sie betrachtete den blonden Krieger, der neben ihr kniete, und fühlte die kalte Bitterkeit von tiefem Kummer und endgültiger Niederlage. Sie würde ohne ihren Bruder nach Shara zurückkehren und ihrer Mutter und Stavan sagen müssen, daß es den Keru, den sie geliebt hatten, nicht mehr gab.
Es war Keshna, die die Situation rettete. Sie kam herbeimarschiert, kniete sich auf den Boden, legte einen Arm um Luma und den anderen um Keru. »Cousin und Cousine«, sagte sie, »ihr klingt wie zwei zankende Sechsjährige.« So hörte sich ihre Auseinandersetzung ganz und gar nicht an, und Keshna wußte es, ebenso wie Luma; aber Keshna lächelte Keru so strahlend an, daß er ihr Lächeln erwiderte und sein Gesicht sich abermals verwandelte. Luma blickte ihn an und dachte an Chamäleons, Sturmböen aus heiterem Himmel und plötzlichen Sonnenschein. Sprachlos und zutiefst bekümmert lehnte sie sich zurück und überließ Keshna die Sache.
Keshna schlug Keru kameradschaftlich auf den Rücken. »Du und Luma könnt euch später noch über die alten Zeiten streiten. Jetzt sollten wir erst einmal feiern. Keru, mein Junge, hast
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