Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
hatten sich in ihren Mähnen verfangen, und ihre Schweife waren schlaff wie nasse Lappen. Die Frau namens Luma hob ihr Gesicht der Sonne entgegen, und die Spinne erkannte Marrahs Züge darin.
Die Spinne streckte eine verrunzelte menschliche Hand aus und zog behutsam an dem Faden aus Spinnweben und Schmerz, der aus ihrem Nabel quoll. Durch das Spinnennetz, das das Lager einhüllte, ging ein Ruck und ein Zittern. Ein Durcheinander von hauchfeinen Silberfäden entwirrte sich, formte sich zu einer perfekten, von Licht übergossenen Kugel und wurde unsichtbar.
Die Spinne betrachtete das Netz voller Genugtuung. Dann streifte sie ihren Spinnenkörper ab, öffnete die Augen und horchte auf die Krieger, die Keru, als er ins Lager ritt mit Hochrufen begrüßten.
»Onkel Changar«, rief Keru leise.
Das Licht im Inneren des weißen Zelts war bläulich und trübe. Weiche Teppiche bedeckten den Boden, und in einem Kreis aus rauchgeschwärzten Steinen brannte ein kleines, unruhig flackerndes Feuer. Neben der Feuergrube stand eine feingearbeitete braunweiße Tonschale, gefüllt mit etwas, das wie schmale Streifen Rindfleisch aussah, vielleicht auch wie Pferdefleisch. Luma warf einen Blick auf die Schale und wußte, daß sie von einem Sklaven getöpfert worden war. Sie holte tief Luft und roch Krankheit, Weihrauch und etwas leicht Fauliges, das ihr Übelkeit verursachte.
»Onkel Changar«, wiederholte Keru. Im Schatten regte sich etwas und hustete. Ein bis aufs Skelett abgemagerter Körper erhob sich mühsam von einem Stapel Decken. Luma sah zwei verrunzelte, zitternde Hände, ein gelbliches, totenschädelähnliches Gesicht, ausgedörrte Lippen, fleckige, pergamentdünne und von tiefen Falten durchzogene Haut. Nur die Augen des alten Mannes wirkten lebendig: sie waren grün und vor Schmerz zusammengekniffen. Konnte dies wirklich Changar sein, dieser alte, kranke Mann, der nach Tod stank? Luma war in das Zelt gekommen, bereit, ihn zu hassen. Er war ihr Feind gewesen, bevor sie zur Welt gekommen war, und sie konnte sich nicht erinnern, daß es jemals eine Zeit gegeben hatte, in der sie sich nicht ausgemalt hatte, wie sie ihn töten würde. Doch jetzt sah sie, daß die Zeit der Rache vorbei war. Batal ist gerecht, dachte sie. Sie starrte auf das jämmerliche Häufchen aus Haut und Knochen, das zitternd, hustend und krampfhaft nach Atem ringend dort hockte, und fühlte etwas, das an Mitleid grenzte. Niemand – nicht einmal Changar – sollte derart leiden müssen.
»Onkel Changar«, sagte Keru zum dritten Mal. »Ich habe ein paar Leute zu Besuch mitgebracht. Ich habe sie auf der anderen Seite des Flusses getroffen. Sie sehen vielleicht wie Männer aus, aber es sind Frauen. Die kleine hier ist Keshna, meine Cousine; und die große ist meine Schwester Luma. Luma und Keshna. Ist das nicht unglaublich? Stell dir vor, nach all den Jahren!«
Keru legte Luma eine Hand auf den Rücken und versetzte ihr einen sanften Schubs. Widerstrebend machte sie einen Schritt auf Changar zu. Der alte Mann blinzelte und starrte sie verständnislos an.
»Rimnak«, murmelte er.
»Nein«, erwiderte Keru und hob seine Stimme. »Das ist nicht Rimnak, Onkel Changar. Rimnak ist drüben in meinem Zelt und bereitet dein Abendessen. Das hier ist Luma, meine Schwester. Luma, Tochter von Vlahan.«
Luma zuckte unwillkürlich zusammen, als er Vlahan als ihren Vater bezeichnete, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihn zu unterbrechen und noch einmal darauf hinzuweisen, daß Stavan ihr Vater war. Es spielte ohnehin keine Rolle. Changar hatte die Bemerkung nicht gehört, und falls doch, dann hatte er sie nicht verstanden. Er starrte Luma noch immer verständnislos an, mit Augen, die aussahen wie Splitter von milchig-grünem Jadeit, durchzogen von blutroten Adern.
»Rimnak«, murmelte er, »bring mir Kersek.«
Keru seufzte und drehte sich zu Luma und Keshna um. »Er versteht nicht. Er glaubt, Luma wäre meine Konkubine Rimnak.« Er räusperte sich und blickte Luma unsicher an. »Würde es dir etwas ausmachen, ihm seinen Kersek zu bringen? Wenn du es nicht tust, wird er sich furchtbar aufregen, weil er glaubt, Rimnak gehorchte ihm nicht.«
Luma machte es sogar sehr viel aus, und sie sagte es Keru auch. »Wie du willst«, meinte Keru. Er wandte sich an Keshna. »Wie ist es mit dir?«
»Ich würde ihm lieber Gift in die Kehle gießen«, erklärte Keshna. Sie verzog den Mund zu einem eisigen Lächeln, das die Temperatur im Zelt noch um einige Grad zu
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