Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
sie nicht dort war, als er zurückkehrte.
»Bleib hier«, murmelte Changar und klopfte auf das Kissen, auf dem Keru saß. Luma hörte Rimnaks leisen Seufzer der Erleichterung. Changar schloß die Augen, und sein Kopf sank ihm langsam auf die Brust. Im Inneren des Zeltes herrschte für lange Zeit Stille. Luma wurde ungeduldig. Der alte Mann war eingeschlafen. Warum ging Keru nicht?
Luma gähnte und setzte sich, um abzuwarten. Nach einer Zeit, die ihr vorkam wie eine halbe Ewigkeit, öffnete Changar wieder die Augen und blinzelte benommen. Er hob den Kopf und sah Keru an, als ob er ihn nicht richtig erkenne, aber vielleicht tat er es doch, denn er zeigte auf etwas, das Luma nicht sehen konnte, und Keru stand auf, um es ihm zu bringen.
Luma sah, wie sich Kerus Schatten über die Zeltwand bewegte. Sie beobachtete, wie er nach etwas griff und dann kehrtmachte und zu Changar zurückging. Als er wieder in ihrem Blickfeld erschien, hielt er einen anderen Trinkschlauch in der Hand. Es war also doch noch ein Schlauch mit Kersek im Zelt. Merkwürdig, daß Changar sich daran erinnert hatte und Keru nicht.
Er setzte sich und zog den Stöpsel heraus, doch statt Changar etwas von dem Kersek in den Mund zu träufeln, reichte er ihm den ganzen Schlauch. Changar ergriff ihn mit zitternden Händen, murmelte etwas, was Luma nicht verstand, und reichte Keru den Schlauch zurück.
»Danke, Onkel«, sagte Keru. Er lächelte, legte den Kopf in den Nacken, preßte die Seiten des Schlauchs zusammen und drückte etwas von dem Kersek in seinen Mund. Aber Moment mal ... war das wirklich Kersek? Luma sah die Flüssigkeit nur für einen flüchtigen Moment, doch sie schien sehr dunkel zu sein, wie das mit Knochenkohle versetzte Wasser, das Marrah ihr manchmal zu trinken gab, wenn sie eine Magenverstimmung hatte. Ein seltsamer Geruch strömte aus dem Zelt: süß wie Anis, aber mit etwas Bitterem vermischt, etwas Unvertrautem und leicht Widerwärtigem, Luma an Holzfäule erinnerte. Welche Kräuter rochen denn wie vermodertes Holz?
Keru schluckte die Flüssigkeit, was immer sie auch enthalten mochte, senkte den Schlauch und lächelte. »Darf ich noch etwas davon trinken?«
Changar schien ihn verstanden zu haben, denn er nickte, und Keru trank abermals einen Schluck. Er schien das Zeug zu mögen. Vielleicht schmeckte es besser, als es roch. Als er zum zweiten Mal davon trank, fragte Luma sich, ob dies vielleicht das Gebräu war, das ihn zeugungsunfähig machte. Es war ein beunruhigender Gedanke, deshalb war sie erleichtert, als sie sah, wie Changar verneinend den Kopf schüttelte, als Keru um einen dritten Schluck bat.
Keru erhob keine Einwände. Er stöpselte den Schlauch gehorsam zu und legte ihn auf den Teppich zwischen ihnen. Danach geschah nichts weiter, außer daß Changar wieder die Augen schloß und erneut den Kopf auf die Brust fallen ließ. Bald ließ auch Keru den Kopf sinken. Changar stieß einen leisen Schnarchlaut aus, und an seinem Kinn rann ein dünner Speichelfaden herunter. Keru begann zu schnarchen. Sie schlafen tief und fest, dachte Luma.
Aber nachdem sie Keru nun von dem sonderbaren schwarzen Gebräu hatte trinken sehen, hatte sie es nicht mehr eilig zu gehen. Sie kniete sich auf den harten Boden, versuchte, nicht an ihre Knie zu denken, die allmählich zu schmerzen anfingen, und spähte weiterhin durch den Schlitz. Keshna neben ihr beobachtete die Szene im Zelt ebenfalls aufmerksam. Manchmal verlagerten sie sehr vorsichtig ihr Gewicht, um kein Geräusch zu machen, und einmal, als Keshna in sich zusammenzusinken begann, als drohe sie einzudösen, drehte Luma sich zu ihr um und kniff sie leicht in die Seite. Dazu mußte sie ihr Auge von dem Loch lösen. Sie blickte Keshna nur für einen kurzen Moment an, doch als sie wieder durch den Schlitz in der Zeltwand spähte, sah sie, daß Changar nicht länger schlief. Er saß aufrecht auf seinem Kissen: den Rücken kerzengerade, die Augen hart und klar, sein Ausdruck hellwach und das Kinn energisch vorgeschoben. Weder zitterte er, noch sabberte er, und der Blick, mit dem er Keru betrachtete, glich dem eines Löwen, der sich an ein Reh anschleicht.
Die Veränderung war so unglaublich, daß man sich nur schwer vorstellen konnte, daß er ein und derselbe Mann war. Changar schien plötzlich um zehn Jahre jünger. Rimnak hatte die Wahrheit gesagt! Der alte Heimtücker stand nicht an der Schwelle des Todes. Er hatte nur simuliert! Luma hielt, aus Angst, einen laut van sich zu geben, der
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