Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
einem Spieß über dem Feuer briet eine fette Ziege, aber es war keine Menschenseele zu sehen. Wie gewöhnlich waren alle Lagerbewohner auf mysteriöse Weise verschwunden, sobald Luma aufgetaucht war.
Luma zog ihren Stiefel aus, massierte ihren Knöchel und dachte gereizt, daß es höchste Zeit war, daß die Nomaden endlich anfingen, mit ihr zu sprechen. Ganz besonders leid war sie es, daß die Kinder jedesmal wie verängstigte Entenküken in alle Richtungen davonliefen, sobald sie sie erblickten.
Sie wollte gerade aufstehen und zu ihrem eigenen Zelt zurück-humpeln, als sie plötzlich ein scharfes Zischen hörte. Verwundert sah Luma sich um, aber es war niemand in der Nähe, der das Geräusch hätte machen können.
»Dreh dich nicht um«, sagte eine gedämpfte, warnende Stimme, so dicht an ihrem Ohr, daß Luma vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren wäre. Ihr ging auf, daß die Stimme jemandem gehören mußte, der in dem Zelt hinter ihr kniete. »Du bist Kerus Schwester, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Luma. Und dann, da sie mit dem Rücken zum Zelt saß, fragte sie: »Kannst du mich hören?«
»Ich kann dich hören, weißt du, wer ich bin?«
»Ich habe keine Ahnung. Ist dies eine Art Spiel, oder was?« »Ich bin Rimnak, die Konkubine deines Bruders, und dies ist keineswegs ein Spiel. Es ist tödlicher Ernst.«
Das war eindeutig ernüchternd. Luma blickte sich um, um zu sehen, ob jemand sie beobachtete, aber obwohl sie ein halbes Dutzend Frauen und drei oder vier Krieger sehen konnte, die ihrer Arbeit nachgingen, waren die Bewohner des Lagers inzwischen so an ihren Anblick gewöhnt, daß sich niemand weiter um sie kümmerte. Dennoch schien es ihr nicht ratsam, den anderen den Eindruck zu vermitteln, sie führe laute Selbstgespräche. Deshalb legte Luma die Hände zusammen und stützte ihren Nasenrücken leicht gegen ihre verschränkten Finger. Diese Haltung hatte drei Vorteile: Sie verbarg ihren Mund, ließ sie müde aussehen und damit noch unnahbarer, und sie lenkte ihre Worte in Richtung der Frau, die direkt hinter ihr kniete.
»Warum kommst du nicht einfach heraus und sprichst mit mir, Rimnak?
»Weil er mich töten lassen wird, wenn ich das tue.«
»Wer wird dich töten lassen? Ganz sicher nicht Keru!«
»Nein, nicht Keru. Keru würde niemals eine Frau töten. Die ganze Zeit, die ich bei ihm gewesen bin, hat er mich nicht einmal geschlagen. Du weißt wirklich nicht, was hier vorgeht, nicht?«
Luma schüttelte den Kopf, und als ihr klarwurde, daß Rimnak sie nicht sehen konnte, flüsterte sie: »Nein.« Rimnak mußte ihr Nein als Aufforderung betrachtet haben, denn sie begann augenblicklich, in hastigem, gedämpftem Flüsterton zu sprechen, so daß Luma einige Mühe hatte, ihr zu folgen.
»Es ist folgendermaßen: Keru und ich sind bis vor kurzem sehr gut miteinander ausgekommen. Er mochte mein Essen, und wenn wir zusammenlagen, habe ich immer getan, was er wollte. Das ganze Jahr über hat er mir gesagt, ich sei seine Lieblingskonkubine, aber vorgestern nacht, als er aus Changars Zelt zurückkehrte, sagte er plötzlich, er habe mich satt.«
Luma erinnerte sich daran, daß Keru den Ruf hatte, niemals lange bei einer Frau zu bleiben. Sie hoffte inständig, Keru hatte Rimnak nicht wirklich gesagt, daß er sie »satt hatte«. Eine Geliebte, mit der man ein ganzes Jahr lang geschlafen hatte, verdiente einen respektvollen Abschied, Geschenke und ein spezielles Gedicht, um sie für gekränkte Gefühle und verletzten Stolz zu entschädigen. Das allermindeste, was sie verdiente, war eine Erklärung. Luma haßte den Gedanken, Keru könnte Rimnak auf so grausame und herzlose Weise fallengelassen haben.
»Es tut mir leid zu hören, daß er dich nicht länger als seine Konkubine will, Rimnak«, sagte sie und kam sich augenblicklich selbst grausam vor. Rimnak in so deutlichen Worten daran zu erinnern, daß sie nicht mehr erwünscht war, war taktlos, aber nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, konnte sie sie leider nicht mehr zurücknehmen.
»Ich hatte so gehofft, von ihm schwanger zu werden.« Rimnaks Stimme zitterte.
»Ich bin sicher, du findest einen anderen Mann, mit dem du Kinder zeugen kannst. Ich habe dich noch nie gesehen, aber du klingst, als ob du eine sehr nette junge Frau wärst.«
»Ich will nicht das Kind irgendeines Mannes. Ich will
sein
Kind.«
Luma war gerührt über den verzweifelten Unterton in ihrer Stimme. »Weiß mein Bruder, wie sehr du ihn liebst?«
»Ihn
liebe?«
unterbrach
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