Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
mußte schrecklich eifersüchtig sein, und das ohne Grund. Keshna interessierte sich weder für Keru noch für irgendeinen anderen Mann.
18. KAPITEL
Luma kniete neben Keshna und spähte angestrengt durch einen winzigen Schlitz, den Rimnak in die Rückseite von Changars Zelt geschnitten hatte. Das erste, was sie sah, war Keru, der neben Changar saß und ihn mit etwas fütterte, das wie rosafarbener Brei aussah. Changar mußte wieder eine seiner schlechten Nächte haben, denn aus seinem Mund tropfte blaßrosa Pampe. Eine Schüssel mit Pferdefleischragout stand unberührt zu seiner Linken. Changars Kopf zitterte, manchmal schlug er die Handflächen zusammen wie ein kleines Kind, und ab und an packte er Kerus Arm mit seinen knochigen Fingern, wie ein Ertrinkender, der versucht, sich an einem Ast festzuklammern.
Obwohl Changar so entkräftet war, mußte sein Griff schmerzhaft sein, aber Keru fuhr geduldig fort, ihm den Brei in den Mund zu löffeln und zu retten, was er retten konnte. Als die Schale leer war, griff er nach einem Lappen, goß etwas Wasser darauf und wusch Changar behutsam das Gesicht. Sobald er sich daranmachte, Changar die Hände zu waschen, wurde der alte Mann wütend.
»Keine Aasgeierflügel!« schrie er. »Wo ist mein Schädelbecher?« Changar verschränkte seine mageren Arme vor der Brust und funkelte Keru erbost an.
»Ruhig, Onkel«, erwiderte Keru. »Wenn du nicht möchtest, daß ich dir die Hände wasche, dann laß ich es.« Als Luma Keru so reden hörte, dachte sie, daß ihr Bruder, wenn er sein Leben in Shara verbracht hätte, inzwischen sicherlich mehrfacher Aita wäre. Mit derselben sanften Stimme hätte er seine Kinder beruhigt, statt all seine Zärtlichkeit an Changar zu verschwenden. Und was Changar anging – je länger sie ihn beobachtete, desto überzeugter war Luma, daß Rimnak log oder sich zumindest gründlich irrte. Der alte Mann war derart schwach, daß er kaum aufrecht sitzen konnte.
Der Gedanke, daß Changar alt, krank und machtlos war und an der Schwelle des Todes stand, machte Luma nicht traurig, aber sie war zu gut erzogen, um angesichts der Gebrechlichkeit des alten Mannes Schadenfreude zu empfinden, auch wenn er ihr schlimmster Feind war. Keshna dagegen neigte nicht so sehr zu Mitgefühl, und Luma konnte sie geradezu hämisch frohlocken hören.
Luma hatte genug gesehen. Sie machte Anstalten aufzustehen, aber eine sanfte Hand auf ihrer Schulter hielt sie zurück. Sie drehte den Kopf und sah Rimnak. Nachdem sie Rimnaks Stimme gehört hatte, hatte Luma angenommen, sie wäre der Typ Frau, der bei den Nomaden als schön galt: groß, dünn, mit vollen Brüsten, einer langen Nase, blasser Haut und goldblondem, mit silbernen Strähnen durchzogenem Haar. Doch Rimnak sah eher wie eine Sharanerin aus: mollig und klein und für eine Nomadin ungewöhnlich dunkel. Keru hatte in puncto Frauen den Geschmack des Landes beibehalten, in dem er geboren worden war. Rimnak glich mehr einem gutgenährten Moorschneehuhn als einem eleganten Schwan.
Warte!
bedeutete Rimnak ihr in Gebärdensprache. Sie zeigte auf Keshna, die noch immer durch den Schlitz spähte.
Beobachte Changar noch eine Weile.
Luma zuckte die Achseln, wie um zu sagen:
Wenn du darauf bestehst,
und schob ihr Gesicht wieder vor das Guckloch. In der Zwischenzeit schien nicht sonderlich viel passiert zu sein, außer daß Keru einen Schlauch mit einem Getränk gebracht hatte und daß er und Changar jetzt abwechselnd daraus tranken. Genauer gesagt, Keru trank daraus und schob das Mundstück des Schlauchs vorsichtig zwischen Changars Lippen, um ein klein wenig von dem, was der Schlauch auch enthielt, in Changars Mund zu drücken.
Wahrscheinlich Kersek, dachte Luma. Keru drückte abermals, und eine kleine Menge gegorener Stutenmilch rann aus Changars Mundwinkel und tropfte auf das Vorderteil seiner Tunika. Das ist fast so, als würde man jemandem beim Füttern eines Babys zuschauen, dachte Luma. Fast so, nur weitaus weniger amüsant.
Nachdem sie vielleicht sechsmal getrunken hatten, drehte Keru den Schlauch herum und drückte ein paar Tropfen in seine Handfläche. »Tja, das war's, Onkel. Wir haben keinen Kersek mehr«, sagte er. »Hast du genug, oder soll ich einen anderen Schlauch aus meinem Zelt holen?«
Luma fühlte, wie Rimnak hinter ihr erstarrte. Wenn Keru zu seinem Zelt ging, um mehr Kersek zu holen, würde Rimnak in Windeseile hinüberflitzen oder sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen, um zu erklären, warum
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