Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
gewünscht, daß du Priesterin wirst.«
»Es ist nicht meine Bestimmung, Priesterin zu werden, Mutter«, erwiderte Luma mit großer Förmlichkeit.
»Meine auch nicht«, fügte Keshna hinzu und sah Marrah mit einem triumphierenden Lächeln an.
Die Arroganz dieses Lächelns brachte Marrah sofort wieder in Rage. Sie wandte sich Keshna zu. »Das war deine Idee, stimmt's? Dies ist wieder einer von deinen verrückten Plänen. Seit du drei warst, hast du meine Kinder zu lebensgefährlichen Abenteuern angestiftet, und jetzt versuchst du, Luma zu etwas zu überreden, was ihr sicherer Tod sein wird! «
Keshna zuckte mit einer Gleichgültigkeit, die an Unverschämtheit grenzte, die Achseln. »Luma ist ihr eigener Herr«, erklärte sie. »Und was mich betrifft, Tante Marrah, ich bin zur Kriegerin geboren. Wenn du mir nicht glaubst, frag meine Mutter. Frag sie, was sie mir ins Ohr geflüstert hat, als ich ein Kind war. Frag sie, ob sie stolz auf mich ist, wenn sie mich heute hier so sieht, bewaffnet und bereit, nach Norden zu reiten, um mit den Schlangen zu kämpfen.«
Marrah wirbelte herum, um Hiknak anzusehen. »Sagt Keshna die Wahrheit? Bist du an diesem Morgen stolz auf deine Tochter? Ist es das, was du dir für sie gewünscht hast, als du sie geboren und genährt hast und zur Frau hast heranwachsen sehen?«
Hiknak blickte zu Keshna auf, ihr Gesicht war von einem Leuchten erfüllt. Lange Jahre hatte Hiknak sich wie die Mutterleute gekleidet, hatte ihre Sprache gesprochen und ihre Sitten und Gebräuche übernommen. Jetzt schienen all diese Jahre urplötzlich von ihr abzufallen, und sie war wieder die Tochter des wilden Tcvali-Häuptlings, die ihr Leben lang auf Rache sann. » Ja«, sagte sie. »Ja, ich bin stolz.« Sie trat zu Keshna und legte eine Hand auf die Flanke der Stute. Ihre Berührung war liebevoll, fast wie eine Liebkosung.
»Du gibst mir das Gefühl, alt zu sein, Keshna. Mein ganzes Leben lang habe ich mich danach gesehnt, zu Pferd gegen die Nomaden zu kämpfen, aber ich habe nie die Chance gehabt, und jetzt wirst du es für mich tun.«
»Du hast mindestens einen Nomaden getötet, Mutter«, erwiderte Keshna. »Du hast Vlahan umgebracht.«
»Ein toter Hansi-Häuptling ist nicht genug.« Hiknak lächelte, und Marrah sah zu ihrem Erstaunen, daß sie tatsächlich glücklich war. »Beug dich jetzt herunter, und laß dich von mir segnen.«
Keshna beugte sich zu ihrer Mutter hinab, und Hiknak nahm das Gesicht ihrer Tochter zwischen beide Hände und küßte sie auf die Wangen. »Dies ist der Segenswunsch deiner Mutter: Zieh hinaus und kämpfe! Sei mutig und furchtlos! Laß deine Pfeile die Herzen der Feinde durchbohren und nimm Rache für die Tcvali-Kinder, die von den Hansi-Feiglingen abgeschlachtet wurden! «
»Es kann sein, daß ich auch gegen Tcvali-Krieger kämpfen muß, Mutter«, erwiderte Keshna. »Luma und ich werden gegen jeden Nomaden kämpfen, der sich Shara nähert. Trotzdem danke ich dir für deinen Segen.«
Das Leuchten in Hiknaks Augen erlosch. Sie ließ Keshna los und trat einen Schritt zurück. »Es ist alles so schrecklich verworren«, murmelte sie. »Mein kleines Mädchen wird zur Frau; die Frau wird zur Kriegerin. Früher hätte man einer Frau nicht erlaubt, in den Kampf zu reiten, und deshalb bin ich stolz auf Keshna. Aber was meint sie damit, wenn sie sagt, sie müsse vielleicht gegen ihr eigenes Volk kämpfen? Die Enkelin eines Tcvali-Häuptlings würde niemals Tcvali-Blut vergießen. Dennoch gebe ich ihr meinen Segen. Was kann eine Mutter anderes tun?«
»Wirst du mir auch deinen Segen geben?« fragte Luma Marrah. »Wirst du mich küssen, wie Hiknak Keshna geküßt hat, und mich in den Kampf schicken?«
»Nein«, erwiderte Marrah störrisch. »Ich werde dir niemals meinen Segen geben, um zu töten. Töten ist niemals etwas Gesegnetes, selbst wenn man dazu gezwungen wird. Ich habe während der Belagerung von Shara viele Nomaden getötet, das weißt du. Wir mußten sie töten, um nicht selbst getötet zu werden, aber ich war nie stolz auf das, was ich notgedrungen tun mußte, und danach habe ich Batal angefleht, mir zu verzeihen.«
»Dann wirst du mich also ohne deinen Segen fortschicken.« Luma packte die Zügel so fest, daß ihre Fingerknöchel weiß her-vortraten. Sie kniff die Augen zusammen. »Willst du mir das damit sagen, Mutter?«
Marrah sah Luma und Keshna an, die so stolz auf dem Rücken ihrer Pferde saßen, und plötzlich fühlte sie einen Schmerz in ihrer Brust, als
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