Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
hatte, um die beiden jungen Frauen in der Kriegskunst zu unterweisen. Es war ein ernstes Spiel, ein Spiel um Leben und Tod und Überleben; und als Luma, einen schweren alzacanischen Jagdbogen und einen Köcher voller stumpfer Pfeile mit ausgehöhlten Spitzen schleppend, barfuß durch den heißen Sand lief, wurde ihr Durchhaltevermögen auf eine harte Probe gestellt.
Die Spielregeln waren simpel und brutal, und laut Stavan kannte sie jeder zehnjährige Nomadenjunge. Es gab immer mindestens zwei Spieler: den Jäger und den Gejagten. Die Gejagte –Keshna – war bereits eine ganze Weile vor Sonnenaufgang aufgebrochen, um so viel Vorsprung vor Luma zu gewinnen, wie sie konnte. Alle Tricks anwendend, die Stavan ihr beigebracht hatte, sollte sie ihr Bestes geben, um keine Spuren zu hinterlassen.
Als die Sonne aufging, hatte sich Luma – die Jägerin – auf den Weg gemacht, um Keshna aufzuspüren. Irgendwann – Luma würde unmöglich vorausberechnen können, wann –, würde Keshna ihre Flucht abbrechen, kehrtmachen und zurücklaufen, um sich an Luma anzuschleichen. Um das Spiel noch interessanter zu machen, hatte Stavan spezielle Regeln aufgestellt. Die beiden jungen Frauen hatten an diesem Morgen nichts essen dürfen, und obwohl sie sich durch dornenbewehrtes Unterholz und über steiniges Gelände jagen würden, war es ihnen verboten, Sandalen zu tragen.
Als Luma jetzt in großen Sprüngen über den brennendheißen Sand jagte, sich die Füße an scharfkantigen Muscheln und Dornen aufschnitt und Keshna dafür verfluchte, daß sie sich eine solch unwegsame Route ausgesucht hatte, schwitzte sie in Strömen. Doch ihr Schweiß hatte keinen menschlichen Geruch, weil sie sich vorher mit speziellen Kräutern eingerieben hatte, um ihren Körpergeruch zu neutralisieren. Im Mund hatte sie einen Kieselstein, um den Speichelfluß zu verstärken, damit sie nicht so oft eine Pause zum Trinken machen mußte. Selbst die Bogensehne zwischen ihren Brüsten war frisch eingeölt, damit sie geschmeidig war und sich mit ihr bewegte, statt ihre Haut wundzureiben.
Luma war nicht mehr die gleiche wie an dem Tag, als sie volljährig geworden war, sich ihren ersten Liebhaber genommen hatte und ins Dorf geritten war, um allen zu verkünden, daß sie beschlossen hatte, Kriegerin zu werden. Ihr Körper hatte all seine jungmädchenhafte Weichheit verloren. Ihr Bauch war flach und straff vom Fasten, ihre Beine stark vom Schwimmen, ihre Arme muskulös vom Speerwerfen, Bogenschießen und Holzhacken. Aber die wichtigsten Veränderungen waren unsichtbar. Bevor Stavan angefangen hatte, sie zur Kriegerin auszubilden, hatte Luma geglaubt, die Mutterländer zu verteidigen sei ein großartiges Abenteuer. Inzwischen sah sie den Krieg gegen die Nomaden als einen brutalen Kampf, den nur die Klügsten und Geschicktesten überlebten. Sie würde niemals eine harte Frau sein – dafür war sie zu sehr Marrahs Tochter, und zudem besaß sie eine grundlegende Freundlichkeit, an der sich niemals etwas ändern würde –, doch Stavan hatte ihr in den vergangenen zwei Monaten eine Unerschrockenheit eingeimpft, die sie für immer prägen würde. Niemand würde sie jemals mißbrauchen und ungeschoren davonkommen. Niemand würde sie jemals verärgern, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Den Rest ihres Lebens würde sie loyal, gerecht und fast übertrieben großzügig sein; aber wenn sie angegriffen wurde, würde sie sich mit der Heftigkeit einer kampferprobten Kriegerin zur Wehr setzen.
Sie hatte diesen Geisteszustand nicht mühelos erreicht. Um stolz zu werden, war sie zunächst gedemütigt worden. Diese Demütigung hatte gleich am ersten Tag ihrer Ausbildung begonnen, als Stavan sie und Keshna davon in Kenntnis gesetzt hatte, daß sie ihre geliebten Stuten den Rest des Sommers nicht reiten würden, und Luma den Fehler gemacht hatte, dagegen zu protestieren. Stavan hatte sie angesehen, als sei sie eine Fremde, als habe er sie niemals in seinen Armen gewiegt oder ihr vorgesungen oder sie damit geneckt, wie hübsch sie war.
»Zuerst werdet ihr die alte Art des Kampfes lernen – die Art, wie mein Volk in früheren Zeiten Krieg geführt hat, bevor sie Pferde zähmten«, hatte er erklärt. Seine Stimme war beherrscht und kalt gewesen, und er hatte sie angestarrt, als seien sie etwas Kümmerliches und Abstoßendes, kaum wert, angesprochen zu werden. »Ein Pferd kann jederzeit unter euch getötet werden. Aber solange ihr kräftige Beine habt und Klugheit
Weitere Kostenlose Bücher