Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
allen Ernstes sagen, daß wir beide allein gegen die Nomaden kämpfen sollen? Ohne Waffen? Ohne jede Unterstützung?«
»Ja! « Keshnas Augen leuchteten, und selbst die Haare auf ihrem Kopf schienen sich vor lauter Begeisterung doppelt so dicht zu locken. »Ich habe einen Plan ...«
Hastig preßte Luma Keshna die Hand auf den Mund. »Ich will ihn gar nicht hören. Ich liebe dich wie eine Schwester, aber du hast nicht einmal so viel Verstand, wie die Göttin einer Stechmücke gegeben hat. Ich bin im Moment nicht gerade glücklich, aber ich habe keine Lust, vor meiner Zeit zu sterben. Hör mir zu, und hör mir gut zu: Zwei fünfzehnjährige Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch nie in eine Schlacht geritten sind, können nicht – ich wiederhole, können nicht – allein gegen bewaffnete Nomadenkrieger kämpfen und es überleben.«
Keshna packte Lumas Handgelenk und zog ihre Hand weg. »O doch, das können sie!« Und dann, bevor Luma sie aufhalten konnte, schilderte Keshna ihren Plan.
Später am Nachmittag saß Luma allein an einem verlassenen Strandabschnitt in der Nähe der Mündung des Reiherflusses. Der Reiherfluß, der gleich nördlich von Shara ins Meer floß, war ein guter Platz, um allein zu sein, und Luma brauchte dringend Einsamkeit. Sie mußte über etwas sehr Wichtiges nachdenken, und dabei wollte sie nicht gestört werden.
Sie hob ein paar Kieselsteine auf, starrte sie einen Moment lang nachdenklich an und legte dann ein paar auf die linke Seite und ein paar auf die rechte. Ein zufälliger Beobachter hätte sich wahrscheinlich gefragt, wieso sie die einen Steine auf die eine und die anderen Steine auf die andere Seite legte, da beide Haufen Steine aller Farben und Größen enthielten. Aber es war nicht der einzelne Stein, der zählte, sondern der Gedanke, der ihn begleitete.
Luma hatte in ihrem Leben einen Punkt erreicht, an dem sie eine schwierige Entscheidung zu treffen hatte. Die Kieselsteine links von ihr standen für eine mögliche Zukunft, die rechts von ihr für eine andere. Jedesmal, wenn sie einen Stein aufhob, umschloß sie ihn fest mit ihren Fingern und dachte lange und angestrengt nach, bevor sie ihn weglegte. Das Aussortieren dauerte so lange, daß die Ebbe eingesetzt hatte, bevor sie damit fertig war. Als der Wind abflaute, wurden die Wellen flacher. Strandläufer und orangebeinige Stelzenläufer trippelten am Saum des Wassers entlang und bohrten mit ihren schlanken Schnäbeln Löcher in den feuchten Sand, während draußen auf dem Meer große Schwärme schwarzer Sturmtaucher über den grauen Wellen kreisten.
Schließlich warf Luma den letzten Kieselstein, schlang die Arme um die Knie, inspizierte die beiden Steinhäufchen und runzelte verwirrt die Stirn. Sie waren genau gleich groß: dreizehn Steine auf der einen und dreizehn Steine auf der anderen Seite. Sie betrachtete die beiden möglichen Wege, wohl wissend, welchen ihre Mutter für sie gewählt hätte; dann versuchte sie, in ihr eigenes Herz zu sehen, aber alles, was sie fand, war Verwirrung und Ratlosigkeit. Ihre Mutter war eine große Hellseherin. Eingeweiht in die Geheimnisse der Dunklen Mutter in der heiligen Stadt Kataka, konnte Marrah sowohl die Traumwelt als auch die Künftige Welt sehen, aber leider hatte sie diese Fähigkeiten nicht an Luma weitergegeben. Wenn Luma so wie jetzt versuchte, über das Hier und Jetzt hinauszublicken, schien sich jedesmal eine dunkle Mauer vor ihr zu erheben, und ihre Gefühle ähnelten den Sturmtauchern: Sie flogen wild über dunkles Wasser auf ein ungewisses Schicksal zu.
Als sich die Göttin Erde auf Ihren Winterschlaf vorbereitete, wurde das Wetter kalt, die Tage wurden kürzer, und große Scharen weißbäuchiger Enten kamen nach Shara, um in der Marsch an der Mündung des Reiherflusses zu überwintern. Den ganzen Herbst hindurch waren Luma und Keshna so gefällig und gehorsam, daß Marrah allmählich Verdacht schöpfte und Stavan beschloß, ein Auge auf die beiden zu haben, aber wenn die beiden jungen Frauen irgend etwas im Schilde führten, so behielten sie es wohlweislich für sich. Jeden Morgen begleitete Luma ihre Mutter in den Brottempel, wo sie den Tag über Schalen und Krüge töpferten und sie in dem großen, bienenkorbförmigen Brotbackofen, der auch als Brennofen diente, brannten. Keshna bot sich bereitwillig an, Feuerholz zu schlagen, und verbrachte ihre Tage im Wald, wo sie Bäume zerhackte, bis die Holzlager sämtlicher Mutterhäuser Sharas bis zum Rand mit Scheiten
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