Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
zu stellen, über seine Liebe zur Musik und seine Mutter, die seit vielen Jahren tot war. Sie hatte ihn inständig gebeten, ihr von seinen Träumen zu erzählen, und ihre eigenen Träume mit ihm geteilt. Zu jener Zeit hatte er noch gehofft, ihr plötzliches Interesse an ihm bedeutete, daß sie anfinge, seine innigen Gefühle für sie zu erwidern, doch jetzt wurde ihm klar, daß sich hinter ihren Fragen etwas ganz anderes verborgen hatte. »Wo sind die Winterlager der Nomaden?« hatte sie wissen wollen. »Wie viele Wachen postieren sie gewöhnlich? Wo binden sie normalerweise ihre Schlachtrösser an? Wo lagern sie ihre Waffen?«
Fast eine ganze Woche lang suchte Kandar verzweifelt weiter, getrieben von den Antworten, die er ihr gegeben hatte. Er hatte Keshna ermutigt, hatte ihr versichert, sie könne es mit jedem Nomaden aufnehmen, wenn Ranala nur endlich nachgeben und sie mit den Nattern reiten lassen würde. Warum hatte er ihr nicht abschreckende Geschichten erzählt, Geschichten über Schlangenkrieger, die in nomadische Gefangenschaft geraten und auf unsäglich grausame Art gefoltert worden waren?
Am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als aufzugeben. Erbittert ritt Kandar zum letzten Mal nach Shara zurück, um Ranala von seinem Mißerfolg zu berichten. Als die Stadt im matten Licht des frühen Morgens vor ihm lag, in sich zusammengerollt wie eine große weiße Schlange, mußte er wieder an Keshna denken, an ihr rotes Haar, ihre samtschwarzen Augen und ihre Hitzigkeit. Inständig betete er zu Batal, es möge den Nomaden ebensowenig wie ihm gelingen, sie zu finden.
Während Kandar zu Batal betete, hockten Luma und Keshna in ihrem Unterschlupf und lauschten dem Heulen des Windes, der den Schnee durch die Bäume trieb. Sie waren mehrere Tagesreisen nordwestlich von Shara und hatten ihr Lager in einem Gebiet mit dichtem Baumbestand aufgeschlagen. Es war früher Morgen und bereits hell genug, um Farben unterscheiden zu können, aber sie machten keine Anstalten, aus ihrer provisorischen Schutzhütte herauszukriechen und ihre Pferde zu satteln. Die kleine Zuflucht war behaglich und warm. Sie hatten sie am Spätnachmittag des vergangenen Tages errichtet, um ein kurzes, dreibeiniges Gestell aus Ästen herum hatten sie einen zweiten Kreis aus Stangen gesteckt und das Innere üppig mit Gestrüpp, Blättern, Baumrinde, vermodertem Holz, Kiefernzweigen und Erde abgedichtet. Das Ergebnis war eine niedrige, runde, fast winddichte Hütte, die obendrein noch den Vorteil hatte, wie ein Haufen abgestorbenes Strauchwerk auszusehen. Wenn es weiter so stark schneite, würden sie kurz hinausgehen, um eine warme Mahlzeit zu kochen und die Pferde zu versorgen, und dann wieder in den Unterschlupf kriechen und den Rest des Tages damit verbringen, zu dösen und ihren Plan zu perfektionieren. Bis der Sturm vorbei war, konnten sie es nicht riskieren weiterzureiten.
»Was glaubst du, wie lange wir wohl noch brauchen werden, um zu dem Nomadenlager zu gelangen?« fragte Luma, während sie müßig an ein paar Grasbüscheln zupfte, die zwischen den Holzstangen herausgerutscht waren.
Keshna gähnte und nahm sich einen Streifen Dörrfleisch. »Wenn das Schneetreiben nachläßt und wir noch vor heute mittag aufbrechen können, müßten wir morgen gegen Nachmittag den Rauch ihrer Feuer sehen können«, murmelte sie kauend. Sie schluckte den letzten Rest Dörrfleisch hinunter, nahm einen Pfeil aus ihrem Köcher und ritzte damit eine Landkarte in den Erdboden. Sie zog eine wellenförmige Linie für den Reiherfluß, und eine zweite, etwas dickere Linie für den ersten Fluß im Norden, bei den Sharanern als der Grüne Strom bekannt. Zwischen diesen beiden Linien zeichnete sie eine Reihe von Kreuzen und Dreiecken, die Bäume beziehungsweise Dörfer symbolisieren sollten. Schließlich legte Keshna eine dramatische Pause ein, blickte sich um und rammte ihren Pfeil mit der Spitze in den Erdboden, um einen Kreis am Nordufer des Grünen Stroms herauszubohren.
»Das Lager ist genau hier, direkt unterhalb der zweiten Flußbiegung. Und wir« – sie ritzte zwei kleine Strichmännchen in die Erde – »befinden uns ungefähr hier.«
Luma inspizierte die Strichmännchen und den Kreis und runzelte skeptisch die Stirn. »Bist du sicher, daß alles genau an der Stelle ist, wo du es hingemalt hast?«
»Natürlich bin ich mir sicher.« Keshna warf den Pfeil beiseite und nahm noch einen Streifen Dörrfleisch aus dem Proviantsack. »Warum fragst du mich das
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