Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
gefüllt waren. Häufig sah man die beiden abseits von allen anderen stehen und leise miteinander tuscheln, aber sie verschwanden nicht mehr auf so mysteriöse Weise wie vor ihrer Volljährigkeitszeremonie, und schließlich hatten erwachsene Frauen ein Recht darauf, private Freundschaften zu pflegen.
Manchmal, wenn die Hirten hinausgingen, um den Pferden Heu hinzuwerfen, hatten sie das vage Gefühl, daß mit der Herde irgend etwas nicht ganz in Ordnung war; und hin und wieder hatte Marrah den deutlichen Eindruck, daß bestimmte Hauptnahrungsmittel schneller als gewöhnlich aus den Vorratsbehältern in der Küche verschwanden – getrocknete Früchte zum Beispiel –, aber sie hatte nie genau über all diese Dinge Buch geführt, und außerdem schien es angesichts der Tatsache, daß das Wintersonnenwendefest unmittelbar bevorstand und so viel Besuch in ihrem Haus ein- und ausging, nur logisch, daß die Vorräte schneller als sonst verzehrt wurden.
Dann, knapp zwei Wochen vor der längsten Nacht des Jahres, als die Stadt bereits festlich mit Fahnen geschmückt war und eine glatte Eisschicht die blauen und orangefarbenen Fliesen des großen Marktplatzes bedeckte, stellten die Sharaner plötzlich fest, daß Luma und Keshna verschwunden waren.
ZWEITES BUCH
Wilder Honig
»Und der Gott des Leuchtenden Himmels kam auf die Erde herab und heiratete die Königin der Nacht ...«
Inschrift auf einem shambanischen Trinkbecher Ende des fünften Jahrtausends v. Chr.
6
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KAPITEL
Was nützt es, Fährtenleser zu sein, wenn es keine Fährten gibt? Warum ist das Wort Keshna wie Musik? Warum klingt der Name einer Frau in den Ohren eines Mannes wie Musik? Beantworte mir diese Fragen, Batal, und wenn du damit fertig bist, beantworte mir folgende: Wie kommt es, daß die Liebe in einem Herzen ein Zuhause findet und in einem anderen nicht?
Dies waren Kandars Gedanken, als er am Strand entlangritt und nach der Stelle suchte, wo Luma und Keshna ihre Pferde vom Wasser weggelenkt hatten. Der Wind wehte in eisigen Böen von der See her, doch er zog sich die wollene Kapuze nicht über den Kopf, weil eine Kapuze das Blickfeld eines Kundschafters einengte. Langsam ritt er in den kalten Regen hinein, der sich bald in Schneeregen verwandelte und schließlich in Schnee, und untersuchte sorgfältig jede blankpolierte Muschel und jede Vogelspur. Seine mit Schaffell gefütterten Handschuhe waren eisüberkrustet, und die Nüstern seines braunen Wallachs dampften in der grimmigen Kälte, die über Nacht von Norden heruntergezogen war, aber seine Augen brannten wie Feuer, und sein ganzer Körper fühlte sich an, als stünde er in Flammen. Es mußte doch irgend etwas zu finden sein: irgendeine Spur der schönen, tollkühnen jungen Frau und ihrer Cousine, die – wie Ranala es so grausam formuliert hatte – in den sicheren Tod ritten.
Aber Kandar fand nichts.
Zuerst war er zu der Furt geritten, doch der vom Regen aufgeweichte Boden zu beiden Seiten des Flusses war glitschig. Dann war er den ganzen weiten Weg nach Süden zu der Landspitze geritten, weil Luma und Keshna raffiniert waren und vielleicht einen Bogen in südlicher Richtung geschlagen hatten, um ihre Verfolger abzuschütteln. Aber alles, was er sah, waren Sand, Treibholz und Salzwasserpfützen, die an den Rändern zu Eis erstarrten. Kandar machte kehrt und galoppierte wieder gen Norden. Als er die Mündung des Reihers erreichte, schneite es so heftig, daß er kaum noch den Hals seines Pferdes sehen konnte. Schließlich saß er ab, band den Wallach an und legte ihm seinen dicken Umhang über, um ihn warm zu halten, denn er hatte das Tier in Schweiß geritten, und man setzte ein schwitzendes Pferd nicht dem eisigen Wind aus; selbst dann nicht, wenn man die Frau suchte, die man liebte.
Kandar suchte unermüdlich weiter nach Spuren, bis seine Augen von dem heftigen Wind tränten und er in der herabsinkenden Dunkelheit nichts mehr sehen konnte. Er hielt nach den Huf-abdrücken ihrer Pferde Ausschau, bis es zwecklos war, noch weiter zu suchen, und am nächsten Morgen brach er erneut auf und ritt nach Norden, Süden, Osten und Westen, um die Waldpfade nach einem Hinweis darauf abzusuchen, daß die beiden diesen Weg gewählt hatten.
Nachts, wenn die Dunkelheit ihn zum Anhalten zwang, lag er schlaflos da und überlegte krampfhaft, wo die beiden wohl hingegangen waren. Er erinnerte sich an seine Gespräche mit Keshna. Sie hatte ihn aufgesucht, um ihm Fragen über seine Kindheit
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