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Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde

Titel: Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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gesickert sein.
    Keshna fluchte und warf den Axtkopf beiseite. Sie würden ihn natürlich mit nach Shara nehmen, doch bis er mit einem neuen Stiel versehen war, war er völlig nutzlos. Sie fuhren fort zu graben und entdeckten eine Speerspitze – ebenso nutzlos – und Teile von verfaulten Körben, die einst voller Opfergaben gewesen sein mußten. Dann fanden sie lange Zeit gar nichts. Als sie schon drauf und dran waren, endgültig aufzugeben, traf Lumas Schaufel plötzlich auf einen Widerstand. Sorgfältig schoben sie die lose Erde mit den Händen fort und legten ein langes, schmutziges Lederbündel frei. Sie versuchten, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen, als sie das Bündel aus dem Grab hoben und den Schmutz abwischten. Auf dem Leder entdeckten sie schwache Spuren von rotem Ocker, doch die Muster waren schon vor langer Zeit abgeblättert, und das Leder selbst war mürbe und rissig.
    »Pest und Hölle«, schimpfte Keshna erbittert. »Ich fasse einfach nicht, wieviel Pech wir haben! Wenn in dem Bündel ein Bogen ist, wird er gleich beim ersten Mal zerbrechen, wenn eine von uns versucht damit zu schießen.«
    »Vielleicht«, erwiderte Luma. »Vielleicht aber auch nicht.« Sie begann, die Schnüre aufzuknöpfen, die das Bündel zusammenhielten, doch sie rissen unter ihren Händen entzwei. Das Leder fiel auseinander, um eine weitere Schicht Leder zu enthüllen. Darunter kam noch eine Schicht zum Vorschein, die mit Pech versiegelt war. Luma grub ihre Fingernägel in das Pech und rollte langsam die letzte Umhüllung auseinander. In ihrem Inneren lag der prachtvollste sirrende Bogen, den sie und Keshna jemals gesehen hatten. Er war perfekt: geschwungen wie Lippen, das Holz in tadellosem Zustand und nicht verzogen.
    »Man braucht Monate, um so einen Bogen herzustellen«, flüsterte Keshna. Sie streckte den Arm aus, berührte die Waffe und ließ ihre Finger behutsam über das polierte Holz gleiten. Dann hob sie ihn hoch und tat, als wolle sie damit schießen. »Hier, fühl mal sein Gewicht. Fühl nur, wie perfekt er ausbalanciert ist.« Sie reichte Luma den Bogen und grinste spitzbübisch. »Jetzt«, meinte sie, »müssen wir nur noch ein Problem lösen: Wer von uns beiden bekommt ihn? Du oder ich?«
     
    An diesem Abend spielten sie wie zwei alte Nomadenkrieger um den sirrenden Bogen und warfen die Steinwürfel mit inständigen Gebeten und Flüchen. Keshna gewann natürlich. Luma war zwar enttäuscht, aber nicht weiter überrascht. So war es eben. Wenn es etwas Besonderes zu gewinnen gab, schaffte Keshna es jedesmal, es zu bekommen.
    Keshna griff nach dem Bogen und betrachtete ihn, als sei er der Liebhaber, den sie noch niemals in ihr Bett genommen hatte. Dann handelte sie auf die spontane und unberechenbare Art, die sie zu einer so wunderbaren Freundin machte.
    »Nimm du ihn«, sagte sie und drückte Luma den Bogen in die Hand. Luma wollte ihn nicht annehmen und wies darauf hin, daß Keshna den sirrenden Bogen gerecht gewonnen hatte und daß er ihr gehören sollte, doch Keshna ließ nicht locker. »Du bist diejenige, die auf die Idee gekommen ist, in Nomadengräbern nach Waffen zu graben. Dies ist dein Bogen. Ich kann ihn dir nicht wegnehmen.«
    »Und wenn ich mich weigere?«
    Keshna warf einen nachdenklichen Blick auf den Bogen. »Tja«, sagte sie, »wenn du ihn um keinen Preis haben willst, dann werde ich ihn wohl oder übel zu Kleinholz zerhacken und im Feuer verbrennen müssen.« Luma glaubte zwar keine Sekunde, daß Keshna wirklich imstande wäre, eine so prächtige Waffe zu zerstören, aber sie nahm den Bogen trotzdem.
    »Wir werden einen anderen für dich finden«, versprach sie Keshna, doch obwohl sie noch drei Tage lang suchten, fanden sie keine weiteren Nomadengräber mehr.
     
    An einem bitterkalten Nachmittag ungefähr eine Woche später versammelten sich die Sharaner hoch oben auf den Klippen zum letzten feierlichen Ereignis des Wintersonnenwendefestes: der Heilung der Kranken. Die Heilungszeremonie, die an der heiligen heißen Quelle stattfand, war der Hauptgrund, warum so viele Pilger in die Stadt kamen, und sie wurde immer in vollkommenem Schweigen vollzogen. Schweigend gingen die Kranken die steilen Stufen zum höchsten Punkt der Klippen hinauf oder wurden hinaufgetragen; schweigend half man ihnen ins Wasser; schweigend wurden sie gewaschen und massiert, während stumme Gebete über ihnen gesprochen wurden. Obwohl sich an diesem Morgen rund zweihundert Menschen auf den Klippen eingefunden

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