Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Schlangenvogels gefolgt waren. Zweimal trafen sie auf Stellen, die vielversprechend aussahen, wo es aber bei näherem Hinsehen nur Steine und Schlamm gab. An einem milden Tag, als die Sonne schon fast frühlingshaft durch die kahlen Bäume schien, kamen sie schließlich zu einer großen Lichtung.
Große Lichtungen waren mitten im tiefsten Wald eher selten, und diese war gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Sie war verdächtig rund, und obwohl riesige alte Eichen sie umstanden, wuchsen auf ihr nur einige wenige jüngere Bäume und ein halbes Dutzend verkümmerter Büsche. Der Boden war mit Steinen übersät, die offensichtlich von irgendwoanders herstammten, und es gab einen Hügel an einer Stelle, wo eigentlich kein Hügel hätte sein sollen. In der Tat war es gar kein richtiger Hügel, sondern eher ein Erdwall.
Beim Anblick des Erdwalls sprangen Luma und Keshna aus dem Sattel und inspizierten ihn voller Hoffnung. Sie knieten nieder und wühlten mit bloßen Händen in der Erde, rochen daran und kosteten sogar davon.
»Knochen!« rief Luma.
»Reste von verbranntem Holz!« schrie Keshna.
»Ein Grab?«
»Ich glaube schon.«
»Wo sollen wir anfangen zu graben?«
»Dort drüben.«
Aufgeregt rannten sie zu den Pferden zurück, zogen Holzschaufeln aus ihren Satteltaschen und begannen wie wild zu graben. Sie kratzten die oberste Erdschicht weg, lösten feuchte Klumpen und warfen sie über ihre Schultern. Bald waren ihre Stiefel von frischem Schmutz verkrustet und ihre Hände schwarz vom Waldlehm. Sie hatten Glück, daß das Wetter für die Jahreszeit ungewöhnlich warm war. Der Boden war ein wenig aufgetaut, und so konnten sie die halbgefrorene Kruste durchbrechen und dabei die kurzstieligen Spitzhacken benutzen, die sie auf Lumas Rat aus Shara mitgenommen hatten.
Der Nomadenkrieger, in dessen Grab sie scharrten, war offensichtlich in aller Eile beerdigt worden. Vielleicht war er bei der Belagerung umgekommen, vielleicht hatte ihn auch der Fluch des Schlangenvogels eingeholt, als er mit seiner Familie in Richtung Steppe geflohen war. Auf jeden Fall war er eine bedeutende Persönlichkeit gewesen, deren Leichnam man nicht einfach in einem Dickicht abladen konnte. Seine Stammesangehörigen hatten sogar einen halbherzigen Versuch unternommen, sein Grab mit einer Schicht von Steinen abzudecken, um die wilden Tiere abzuhalten, aber die Steine lagen nicht dicht an dicht, und Luma und Keshna konnten sie mit bloßen Händen entfernen.
Unter den Steinen kam eine dunkle, halbkreisförmige Grube zum Vorschein, die nach Schimmel und Moder roch. Hastig lösten sie weitere Steine, um schließlich das Skelett eines Mannes freizulegen. Die Mutterleute begruben ihre Toten immer in zusammen-gekrümmter Haltung, so daß sie wie ungeborene Kinder im Mutterschoß der Göttin Erde ruhen konnten; der Krieger war jedoch nach Nomadenart bestattet worden: flach auf dem Rücken ausgestreckt, damit er das Paradies sehen konnte. Es waren keine Pferde für ihn geopfert worden, was ungewöhnlich war, aber in dem Grab fanden sich sowohl Ziegenknochen als auch die Knochen anderer Tiere, so auch die der Jagdhunde des Kriegers. Luma, die Hunde besonders mochte, war von dem Anblick der Hundeskelette nicht gerade begeistert, doch angesichts der Tatsache, daß die Nomaden manchmal auch Frauen und kleine Kinder erdrosselten und mit dem Toten bestatteten, stellte sie erleichtert fest, daß dieser Krieger nur seine Hunde mit ins Grab genommen hatte.
Er mußte einer von Vlahans Unterhäuptlingen gewesen sein, denn er trug eine lange Kette aus geschnitzten Wolfszähnen um den Hals, und sein fleischloser Schädel war mit einem kleinen, ungefähr zwei Finger breiten Kupferring geschmückt. Aber es waren nicht seine Krone oder seine Halskette, nach der sie suchten. Ein verstorbener Nomadenhäuptling wurde immer mit seinen Waffen beerdigt.
»Sieh doch!« rief Keshna. »Der Hurensohn hält einen Dolch in der Hand!« Triumphierend zog sie ein Messer mit einer scharfen Obsidianklinge aus den knochigen Fingern des Kriegers. Das Knochenheft des Messers war mit Sonnen und Clansymbolen verziert.
»Ist das eine Streitaxt?« fragte Luma und begann, die Erde von einem unförmigen Gegenstand wegzuscharren, den sie entdeckt hatte. Er entpuppte sich tatsächlich als Streitaxt, nur daß es lediglich der Kopf war. Der Anblick einer Steinaxt ohne den dazugehörigen hölzernen Stiel war ziemlich deprimierend. Wenn der Stiel vermodert war, mußte Wasser in das Grab
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