Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Krieger inzwischen halb verrückt waren vor Angst, sie seien von einem schrecklichen Fluch getroffen worden, taten sie alles, was in ihrer Macht stand, um ihre Pferde wiederzubeleben. Sie hatten keine Medizin zur Hand –ihre Arzneimittel befanden sich alle im Lager –, aber sie tasteten die Vorderbeine ihrer Tiere ab, um nach dem Puls zu fühlen, der von Minute zu Minute schwächer wurde; sie strichen mit ihren Händen über die schweißfeuchten Hälse und suchten nach harten, eiförmigen Schwellungen; preßten ihre Ohren gegen den Bauch der Tiere, um auf das unheilverkündende Grollen in den Einge-weiden zu horchen; massierten ihre Bäuche, inspizierten ihre Zungen und Gaumen, rochen ihren Atem, tätschelten sie sanft und flehten sie an, wieder auf die Beine zu kommen. Aber nichts von dem, was sie taten, bewirkte irgend etwas. Ein Schlachtroß nach dem anderen verfiel in eine todesähnliche Starre. Bei einem nach dem anderen setzte der Herzschlag aus, und sie hörten auf zu atmen und wurden steif.
Als sie diese sicheren Todeszeichen sahen, verzweifelten die Krieger. Einige stöhnten laut und rissen an ihren Kleidern, als seien ihre eigenen Väter und Brüder gestorben; andere – darunter auch Lrankhan – schrien und jammerten, als seien ihre Herzen von Pfeilen durchbohrt worden.
In jener Nacht kehrten elf Krieger auf fünf Pferden ins Lager zurück. Als die Frauen den kleinen Trupp näherkommen sahen –zwei Männer auf jedem Pferd und einer zu Fuß – , schrien sie alarmiert auf.
»Brecht die Zelte ab!« brüllte Lrankhan. »Packt die Satteltaschen und treibt die Packpferde und das Vieh zusammen. Die Hälfte unserer Schlachtrösser ist tot! Die Hälfte, habt ihr mich gehört! Wir verschwinden von hier, bevor wir den Rest auch noch verlieren! «
Sein Befehl löste eine panische Hektik aus. Junge Frauen mit schreienden Babys auf dem Rücken stopften in aller Eile Decken, Grabstöcke und Teppiche in Satteltaschen. Hastig rissen sie die Zeltpflöcke aus dem Boden, traten die Schnüre mit den Füßen los und zogen die Zelte so schnell herunter, daß die Stangen polternd umfielen und beinahe die Kinder erschlagen hätten. Die Krieger lösten die Fußfesseln der Milchstuten und Packpferde und trieben sie ins Lager, wo die älteren Frauen sie sattelten und mit Kochgeschirr, Waffen, Schilden, gedörrtem Bärenfleisch und den anderen Besitztümern der Nomaden vom Grünen Strom beluden. Die Mädchen wurden ausgeschickt, um Schafe und Ziegen zusammenzutreiben, während die Jungen in den nahegelegenen Wald rannten, um das Vieh aus dem Korral zu holen, den die Frauen erst am Tag zuvor mit Dornenranken eingezäunt hatten.
Als der Mond hoch oben am Himmel stand, gab es das Nomadenlager am Nordufer des Grünen Stroms nicht mehr.
Draußen im Wald erwachten die Schlachtrösser langsam wieder zum Leben. Ein Vorderhuf zuckte, eine Nüster blähte sich. Lrankhans rotbrauner Wallach wieherte leise, und eine junge Stute antwortete. Hätten die Nomaden dies gesehen, hätten sie wahrscheinlich geglaubt, Gott Choatk persönlich wandere unsichtbar durch den Wald und erwecke Geisterpferde, um seine Herden zu vergrößern. Aber die Pferde waren nicht tot und waren es auch niemals gewesen. Sie waren lediglich mit Drogen betäubt. Jedes Pferd hatte eine oder mehrere der kleinen Kugeln aus gedörrten Äpfeln gefressen, die Luma und Keshna auf dem Boden unter dem gespannten Seil verstreut hatten, und sie waren in den gleichen komaähnlichen Zustand kataleptischer Starre gefallen, in den auch die Priesterinnen von Shara manchmal fielen, wenn sie die Künftige Welt zu sehen versuchten.
Welches Pferd hätte einer solchen Süße, einem so köstlichen Duft, so weichem, zartem Fruchtfleisch schon widerstehen können? Selbst wenn das Innere der Kugeln mit bitter schmeckendem Trancepulver präpariert war. Bis die Pferde den bitteren Geschmack gespürt hatten, waren die getrockneten Äpfel schon halb ihre Kehlen hinuntergerutscht.
Langsam erhoben sich die Tiere wieder unsicher auf die Beine. Sie schlugen mit den Schweifen, beschnupperten sich ängstlich und sahen sich um. Sie hatten lange Zeit geschlafen und seltsame Träume geträumt, und jetzt waren ihre Reiter nirgendwo zu sehen; aber sie waren dazu abgerichtet, nicht davonzulaufen, und so warteten sie geduldig.
Nach einer Weile kamen zwei Frauen aus dem Wald. Sie bewegten sich vorsichtig und blickten immer wieder besorgt über ihre Schulter zurück, was die Pferde nervös machte. Aber
Weitere Kostenlose Bücher