Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
existiert hatte.
Die Wochen vergingen. Kandar, der fast täglich in Marrahs Mutterhaus zu Abend gegessen hatte, ließ sich dort nicht mehr blicken. Er wurde zum Einzelgänger. Er ging Keshna aus dem Weg, blieb für sich und ritt allein hinaus, um sich nach Spuren feindlicher Stoßtrupps umzusehen. Häufig kehrte er erst lange nach Einbruch der Dunkelheit nach Shara zurück.
Irgendwann, als die Wildgänse nach Norden flogen und die ersten zarten grünen Triebe der Weidenbäume am Ufer vom Nahen des Frühlings kündeten, hatte er das Gefühl, er kehre langsam ins Leben zurück.
Ein Mutterhaus in der Nähe der Westmauer. Eine laue Nacht und die gedämpften, melodischen Klänge einer Harfe. Kandar lehnte sich auf seiner Schlafmatte zurück und stützte sich auf einen Ellenbogen, hielt die Augen geschlossen und lauschte auf das Vibrieren der Harfensaiten. Die Saiten erzeugten Töne, die an das Rauschen von Wasser erinnerten, an die sanfte Berührung von Körper an Körper und an die flüsternden Stimmen von Liebenden. Als Kandar die Augen wieder öffnete, sah er eine junge Frau. Sie war klein und zierlich, mit schmalen Schultern, dunklem Haar und langgliedrigen Fingern. Ihr Kopf war über die Harfe gebeugt, ihr Gesicht von Schatten verhüllt. Hinter der Frau stand eine kleine Tonlampe, geformt wie der Körper der Göttin Batal, in einer Nische in der Wand und lächelte auf die beiden herab.
»Sing«, bat Kandar.
Die junge Frau hob den Kopf und schenkte ihm ein Lächeln. Bei Tag diente sie im Tempel der Hirschgöttin und sang heilige Lieder, doch bei Nacht sang sie für ihre Liebhaber, und dann klang ihre Stimme doppelt so süß.
Dunkles Haar, dunkel wie Erde,
Haar, so weich und seidig wie ein Sommerhimmel,
sang sie.
Braune Augen, Baumrindenaugen,
Wimpern wie Grashalme,
bebend im Wind ...
Kandar erhob die Stimme und fiel in das Lied ein. Es war ein sehr altes Lied, eines, das sharanische Liebespaare schon seit Generationen sangen.
Teile Lust mit mir heute nacht, liebster Freund,
während das Mondboot gen Westen segelt.
Steig ein in das Boot der Nacht,
mein dunkler Geliebter, mein Liebling.
Sie sangen lange Zeit gemeinsam, und ihre Stimmen verschmolzen zu den weichen, harmonischen Akkorden der Mutterleute. Der Klang ihrer Stimme erinnert an getrocknete Früchte, dachte Kandar, fest und süß. Seine war schlichter, hatte aber einen Glanz wie ein sorgfältig poliertes Stück Eichenholz. Als sie schließlich verstummten, lehnte die Frau ihre Harfe gegen die Wand neben sich und deckte sie mit einem Stück Leinen zu, um sie vor Feuchtigkeit zu schützen. Sie hob die Arme, löste ihr Haar und ließ es in einer seidigen Kaskade über ihre Schultern herabwallen. Es war glatt und schwer und so schwarz wie der nächtliche Himmel – völlig anders als Keshnas Haar.
Bei dem Gedanken an Keshna fühlte Kandar etwas Kaltes in seinem Inneren aufsteigen. Das Gefühl war so bitter wie Walnußschalen und so scharf wie ein Eiszapfen, der sich durch sein Herz bohrte. Je angestrengter er versuchte, es zu verdrängen, desto schlimmer wurde es.
Die Priesterin band den Knoten an ihrem Hals auf, legte ihren wollenen Umhang ab und warf ihn spielerisch über Kandar. Dann zog sie ihre pelzgefütterte Weste aus und schlüpfte aus ihrer Tunika aus weicher Wolle, die bestickt war mit einem Rudel fliehender Hirsche. Mit einem einladenden Lächeln drehte sie sich zu Kandar um, nackt bis zur Taille. Ihre Brüste waren wie weiche Hügel, die man aus großer Ferne erblickt, ihr Hals war so anmutig geschwungen wie die Wölbung ihrer Harfe. Im matten Licht der Lampe glühte ihre Haut. Sie sah so weich wie Rehleder aus, so braun wie warmer Sand. Kandar, der viel Erfahrung in diesen Dingen hatte, konnte sehen, daß ihre Lippen leicht geschwollen waren vor Verlangen, und er wußte, daß sie bereit für die Liebe war.
Aber er war nicht bereit. Gedanken an Keshna blieben wie trockene Knochen in seiner Kehle stecken. Er wollte sie aushusten, wollte sie endlich loswerden, aber sie kratzten und juckten und peinigten ihn, bis er kaum noch imstande war, die schöne, bereitwillige Frau zu sehen, die so dicht neben ihm saß, daß ihr warmer Atem seine Wange streifte.
So geht es einfach nicht, dachte Kandar bedrückt. Völlig unmöglich. So klappt es niemals.
Die Priesterin streckte die Arme nach ihm aus, um ihn an sich zu ziehen, und einen Moment lang glaubte er, er könnte vielleicht vergessen. Doch die trockenen Knochen der Erinnerung drohten
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