Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
ihn zu ersticken, und das Wort »Keshna« hinkte wie ein lahmes Pferd durch sein Bewußtsein. Die Kälte in seiner Brust breitete sich immer weiter aus, bis sich sein ganzer Körper taub anfühlte.
Er kam sich vor wie ein Narr, als er die Hände der Priesterin ergriff und sie behutsam von sich schob. Die Frau blickte ihn überrascht und leicht gekränkt an. Bei den Mutterleuten hatten angehende Liebende immer die Möglichkeit, es sich im letzten Moment doch noch anders zu überlegen, aber Kandar hatte so inbrünstig gesungen, und sie hatte geglaubt, er sei begierig darauf, Liebe mit ihr zu machen.
»Stimmt irgend etwas nicht?« fragte sie.
Er erwiderte, daß alles in Ordnung sei, und erfand, als er sah, daß sie ihm nicht glaubte, eine höfliche Lüge. Er erklärte ihr, daß er sich plötzlich krank fühle.
»Ja«, sagte sie. »Ich kann den Schmerz in deinem Gesicht sehen. Du bist ganz blaß. Ist es deine Leber oder dein Magen?«
»Der Magen«, murmelte Kandar, zutiefst beschämt darüber, daß er sie belog. Er mochte mutig genug sein, einem angreifenden Kriegerverband ins Auge zu blicken, ohne mit der Wimper zu zucken, aber hier in diesem warmen Raum, neben dieser bezaubernden, bereitwilligen Frau, kam er sich wie ein erbärmlicher Feigling vor.
Die Priesterin, zugleich als Heilerin ausgebildet, tastete prüfend mit den Fingerspitzen über seinen Unterleib. Dann erhob sie sich, ging zu ihrem perlenbesetzten ledernen Medizinbeutel, holte einen kleinen Tonkrug heraus und bestand darauf, daß Kandar den Inhalt trank. Der Krug war mit einer derart bitteren Arznei gefüllt, daß Kandar, als er davon kostete, sich fragte, ob sie vielleicht Rache im Sinn hatte. Doch er schluckte gehorsam jeden einzelnen Tropfen, weil er das Gefühl hatte, es sei das mindeste, was er unter diesen Umständen tun konnte.
»Dieses Mittel wird dir ganz bestimmt helfen«, versprach sie. Aber natürlich tat es nichts dergleichen.
Vielleicht half der Kräutertrank ja doch. Als Kandar das nächste Mal versuchte, Lust mit einer Frau zu teilen, gelang es ihm, die Erinnerung an Keshna zu verbannen, ohne innerlich zu Eis zu erstarren. Die Frau war älter, größer, tröstender. Bei Tag hüteten sie und ihr Mutterclan die Viehherden von Shara, trieben sie auf saftige Weiden und halfen den Kälbern auf die Welt. Die Frau selbst hatte drei Kinder geboren, und ihr Bauch war mit Schwangerschaftsstreifen bedeckt. Ihre Brüste waren weich und schwer; sie hatte kräftige Zähne und geschickte Hände, und wenn sie lachte, füllte der Klang ihres Lachens das ganze Zimmer.
Kandar mochte sie sehr, und sie erwiderte seine Zuneigung. Als sie sich zum ersten Mal liebten, zog sie ihn in ihre herzliche, bärenartige Umarmung und ritt ihn, als sei er ein ungebärdiges Pferd. Bald wälzten sie sich jeden Abend wild in ihrem Bett. Sie liebten sich von hinten und von der Seite, Kopf an Kopf und Kopf bei Fuß, im Stehen und im Sitzen, und einmal balancierten sie sogar gefährlich auf dem Fensterbrett, weil sie den Nachthimmel sehen und das Donnern der Brandung auf den Strand hören wollte. Die Frau verwöhnte Kandar wie eine Mutter, fütterte ihn mit Süßigkeiten und überschüttete ihn mit Komplimenten, bis er sich lachend gegen ihre Übertreibung wehrte.
Einmal holte sie sogar einen Kupferspiegel hervor, polierte ihn mit ihrem Ärmel und forderte Kandar auf, sein eigenes Gesicht zu betrachten. Kandar, der nur hin und wieder in Teichen und Wasserbecken einen flüchtigen Blick auf sein eigenes Bild erhascht hatte, sah einen braunäugigen, schmalgesichtigen Fremden aus dem Spiegel blicken. Der Mann, der Mitte Zwanzig war, hatte den wachsamen, scharfäugigen Blick eines guten Kundschafters. Seine Brauen waren dunkel, seine Lippen voll, und sein Haar – das er lang trug und nach Art der Schlangenkrieger im Nacken zu einem Zopf geflochten – war blauschwarz und ohne jede Spur von Grau. Auf seiner Oberlippe war eine kleine Narbe und auf seiner rechten Wange eine etwas längere.
Langsam hob Kandar die Hand und berührte die Narben, während er sich daran erinnerte, wie er zu den Verletzungen gekommen war. Er rief sich die Schlachten ins Gedächtnis, die er gekämpft hatte, die Nomaden, die er getötet hatte, und diejenigen, die beinahe ihn niedergemetzelt hatten. Er suchte in seinem Gesicht nach irgendeiner Spur von Keshna, denn ein so quälender Schmerz mußte doch ebenfalls Narben hinterlassen, aber Keshna hatte keine Spuren in seinen Zügen hinterlassen –
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