Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Zeitlang standen sie schweigend Seite an Seite und schleuderten mit aller Kraft ihre Speere. Manchmal verfehlten sie die Säcke, aber da sie die beiden besten Krieger in Shara waren, trafen sie in den meisten Fällen genau ins Ziel.
»Um dir die Wahrheit zu sagen«, meinte Kandar unvermittelt, »ich vermisse etwas.«
»Du hast recht.« Ranala warf ihren Speer leicht schräg, so daß er den Zipfel eines Sackes am Boden festnagelte. Sie hatte dies absichtlich getan, und da es schwierig war, diesen Trick zu vervollkommnen, begutachtete sie das Ergebnis mit kritischem Blick. »Wir sollten bewegliche Ziele aufbauen – sie an Baumästen hin-und herschwingen lassen oder etwas in der Art. Außerdem müssen wir noch mehr Zeit darauf verwenden zu lernen, wie man Speere im Dunkeln schleudert. Die Nomaden schaffen es, ihr Ziel zu treffen, auch wenn es stockfinster ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie sie das machen. Vielleicht trinken sie vorher Eulenblut.«
»Ich spreche nicht von Zielübungen. Ich spreche von Keshna. Ich wollte damit sagen, daß mir noch immer etwas fehlt, wenn ich an die Zeit mit ihr zurückdenke.«
Ranala drehte sich zu ihm um, und ihre Augen verengten sich. »Und was könnte das wohl sein? Ihre giftige Vipernzunge vielleicht? Ihr Rattennest von rotem Haar? Vielleicht ist es auch ihr eiskaltes Herz, nach dem du dich sehnst. Keshna ist die einzige Frau, die ich kenne, die die edlen Teile eines Mannes auf zwanzig Schritt Entfernung zu Eis erstarren lassen kann. Und wenn sie nicht eine so gute Kriegerin wäre – ja, Kandar, ich gebe durchaus zu, daß sie gut ist –, würde ich den Ältestenrat darum ersuchen, sie als öffentliches Ärgernis aus Shara hinauszujagen.«
Kandar schüttelte den Kopf. »Du kennst sie überhaupt nicht.« »Wofür ich der Göttin tagtäglich auf den Knien danke.« »Keshna ist wie Wein.«
»Wenn überhaupt, dann höchstens wie ein schlechter Jahrgang.
Sag statt dessen lieber, sie ist wie Essig – oder besser noch, wie Brennesseln mit Knollenblätterpilzen.«
»Ganz im Ernst, sie strahlt etwas Erregendes aus. Selbst wenn sie einen Mann nicht lieben kann, so macht sie doch alle seine Sinne schärfer.« Er war überrascht, wie vehement er Keshna verteidigte. Es war Monate her, seit sie ihn aus ihrem Bett geworfen hatte, und er kam ihr immer noch wie ein treuer Hund zu Hilfe. Ungeduldig rammte Kandar das stumpfe Ende seines Speeres in den Boden, angewidert von sich selbst.
Ich werde niemals über meine Liebe zu dieser Frau hinwegkommen,
dachte er.
Ich werde mein Leben lang ihr Narr bleiben.
Dennoch fühlte er sich verpflichtet zu sagen: »Du verstehst Keshna nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ungeheuer stark ihre Anziehungskraft auf Männer ist. Manchmal habe ich fast den Verdacht, daß sie heimlich bei irgendeinem Nomadenzauberpriester Unterricht genommen und gelernt hat, Liebestränke zu brauen, die bei den Mutterleuten verboten sind. Manchmal glaube ich, sie ...«
»Wenn du weiter solchen Schwachsinn redest«, unterbrach Ranala ihn brüsk, »fange ich an zu kotzen. Ich habe dich nicht mehr so viel dummes Zeug reden hören, seit du vier Jahre alt warst und Mutter dir einen Welpen schenkte.«
»Hör mir zu!« sagte Kandar scharf. »Ich versuche gerade, dir etwas Wichtiges zu sagen.«
Ranala stieß einen leisen, mißbilligenden Zischlaut aus. » Junge, Junge, bist du heute morgen schlecht gelaunt! Ich sag dir was, wenn du wirklich so darauf erpicht bist, wieder zu leiden, dann werde ich ein paar von meinen Kriegern zusammentrommeln und ihnen sagen, sie sollen dich in den Wald schleifen und dich für ein oder zwei Tage an einen Pfahl auf einem Ameisenhaufen fesseln, bis du wieder in etwas heitererer Gemütsverfassung bist.«
»Warum findest du keine Frau für mich, die mit der Freude einer Sharanerin und der Leidenschaft einer Nomadin liebt?« stieß Kandar zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das ist es, was ich brauche.«
»Du wirst eher Honig pissen, als eine solche Frau finden.« Kandar schwieg unheilverkündend. Zwei zornige rote Flecken erschienen auf seinen Wangen, und er umklammerte den Schaft seines Speers so fest, daß seine Fingernägel sich in das Holz drückten. Ranalas Weigerung, ihm zuzuhören, hatte etwas in ihm ausgelöst, von dessen Existenz er bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte. Er stand da und war wütend auf sie, wütend auf sich selbst und wütend auf Keshna. Plötzlich wußte er genau, was er tun mußte, um sich
Weitere Kostenlose Bücher