Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
sie an. »Was ist bloß in dich gefahren?« schrie sie. »Ich kannte mal eine Frau, die genau wie du wie eine Wahnsinnige mit einer zweischneidigen Axt herumhantierte, und das Ergebnis war, daß sie sich eine der Schneiden mitten in den eigenen Rücken rammte – sie zerteilte sich selbst wie einen Wurm in zwei Hälften.«
»Lügnerin!« knurrte Luma.
»Na schön, ich gebe zu, ich habe es mit der Wahrheit nicht so genau genommen«, erwiderte Keshna milde. Sie ließ Lumas Tunika los. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß du drauf und dran warst, dich zu verletzen. Worüber in Batals Namen regst du dich eigentlich so auf?«
»Kandar.«
»Kandar? Wieso Kandar? Er ist also fortgegangen? Na und, was soll's? Ich bin erleichtert, daß er nach Shamban gesegelt ist. Es hat mir wirklich keinen Spaß gemacht, den armen Mann meinetwegen leiden zu sehen, und zur Abwechslung wird es mal ganz angenehm sein, ihm nicht jedesmal über den Weg zu laufen, wenn ich um eine Ecke biege.« Sie hielt inne und betrachtete Lumas Gesicht. Lumas Augen hatten einen harten Glanz, und ihr Kinn war zornig vorgeschoben. »Ach du liebe Göttin, jetzt sag mir nicht, daß du in ihn verliebt bist! «
»Natürlich nicht, du Idiotin. Ich wollte mit ihm gehen. Unzählige Male habe ich Mutter angefleht, mich in den Norden zu schicken, um nach Keru zu suchen. Und jetzt – wo es dringend notwendig ist, daß jemand dort hinauf reist –, schickt sie Kandar! Kandar! Und sie hat mir nichts davon gesagt, hat mir kein Sterbenswort verraten. Gestern abend beim Essen hat sie mir gegenüber am Tisch gesessen, ihr Brot in den selben Topf gestippt wie ich und ein paar nichtssagende Bemerkungen über das Wetter gemacht. Ist das zu fassen! Sie hat dagesessen, mit der festen Absicht, Kandar in den Norden zu schicken – ein Auftrag, für den ich mein Herzblut gegeben hätte –, und nur davon gebrabbelt, wie die Sonne an einem roten Himmel untergegangen sei, und was für ein gutes Wetter das für den nächsten Tag verheiße. Und weißt du auch, warum?
»Na ja«, meinte Keshna. »Ich nehme an, sie hat dir nichts davon gesagt, weil sie die Reise nach Shamban für ziemlich gefährlich hält, und weil sie wußte, daß du darauf bestanden hättest, nach Shamban zu gehen, und weil sie dich nicht verlieren will, so wie sie deinen Bruder verloren hat.«
»Ich«, sagte Luma und zeigte auf sich, »bin eine erwachsene Frau. Mich« – sie schlug sich mit der Faust gegen die Brust –»braucht man nicht wie eine Vierjährige zu beschützen. Wenn Mutter jemanden nach Shamban schicken wollte, dann hätte
sie
mich schicken sollen. Ich spreche fließend Hansi. Ich ...«
»Wenn du weiterhin so gegen deine Brust hämmerst«, unterbrach Keshna sie, »hast du bald ein Loch an der Stelle. Ich gebe dir recht, daß Tante Marrah dich mit Kandar nach Shamban hätte schicken sollen. Ich bin auch der Meinung, daß es falsch von ihr war, dir nicht zu sagen, wohin sie ihn schickt – von ihrem Standpunkt aus betrachtet zwar durchaus verständlich, aber dumm, denn sie hätte sich eigentlich denken müssen, daß du es mit Sicherheit heute noch erfährst, und dir genügend Zeit bleibt, ihn einzuholen. «
»Wenn dem so wäre«, fauchte Luma, »wenn auch nur die geringste Chance bestünde, daß ich ihn noch einhole, glaubst du, dann wäre ich jetzt hier im Wald und würde mir von dir die Ohren vollquasseln lassen? Vielleicht hast du mir nicht zugehört, als ich dir erklärte, daß der Mann in einem Raspa ausgelaufen ist. Einen Einbaum könnte ich rudern. Mit einem Fischerboot würde ich mit deiner Hilfe wahrscheinlich auch noch zurechtkommen. Aber keines von beiden ist schnell genug, um ein Raspa unter voller Besegelung einzuholen. Komm mir bloß nicht mit dem Vorschlag, wir sollten eines stehlen, du weißt sehr gut, daß keine von uns beiden eine Ahnung davon hat, wie man bei einer steifen Brise Segel setzt. Wir würden kentern, über Bord gehen und höchstwahrscheinlich ertrinken. Du kannst dir auch den Vorschlag sparen, ein paar Matrosen zu überreden, uns heimlich nach Shamban mitzunehmen, weil sie nämlich niemals ohne Mutters Erlaubnis fahren würden, ganz gleich, wie verführerisch du mit deinem hübschen kleinen Hintern wackelst.«
Keshna grinste. »Freut mich, daß du meinen Hintern so hübsch findest«, erwiderte sie, »aber ich wollte gar nicht vorschlagen, auf dem Wasserweg zu reisen. Du hast anscheinend nicht darüber nachgedacht, daß Kandar als Händler verkleidet mit
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