Alteuropa-Trilogie 3 - Das Lied der Erde
Auseinandersetzung.
»Ranala ist alles andere als glücklich darüber, daß du fortgehen willst. Sie scheint der Meinung zu sein, du solltest bleiben, um die Nattern in diesem Sommer gegen die Nomaden anzuführen.«
»Ob ich gehe oder bleibe, geht sie überhaupt nichts an.«
»Genau.« Marrah legte den Lappen beiseite und inspizierte ihre Hände, die trotz ihrer Bemühungen kaum sauberer aussahen. »Genau das habe ich ihr auch gesagt. ›Ranala‹, habe ich gesagt, ›Kandar ist ein erwachsener Mann, und er kann gehen, wohin er will. Wir halten keine Sklaven in Shara.‹«
Kandar war so überrascht von ihrer Antwort, daß er nicht wußte, was er sagen sollte. Er hatte mit einer hitzigen Auseinandersetzung gerechnet, und statt dessen billigte Marrah seinen Plan so vorbehaltlos, als ob er das Normalste der Welt wäre. Einen Moment lang fühlte er einen irrationalen Stich schmerzlichen Bedauerns. Schätzte Marrah ihn so wenig, daß es ihr überhaupt nichts ausmachte, ihn gehen zu lassen? Er hatte immer gewußt, daß er für die Nattern nicht unentbehrlich war, aber er hatte nicht gewußt, daß sie das ebenfalls so sah.
»Wie lange planst du fortzubleiben?« fragte Marrah. Ihre Stimme klang freundlich, aber desinteressiert.
»Ich weiß es nicht.«
»Nun ja, das spielt auch weiter keine Rolle. Trithar ist ein tapferer junger Krieger. Er kann die Nattern anführen, während du fort bist. Er ist auch ein guter Spurenleser. Einer der besten.«
Aber nicht annähernd so gut wie ich! dachte Kandar wütend. Er fühlte den Stachel ihrer Gleichgültigkeit so deutlich, als habe sie Salz in eine offene Wunde gerieben. Dann blickte er auf und sah, daß ihre Augen ihn anlachten.
»Entschuldige, Kandar«, sagte Marrah. »Ich sollte dich nicht so ärgern. Ich möchte nicht, daß du gehst, und dies ist ganz einfach meine Art, mich für die Tatsache zu rächen, daß du fortgehst und daß ich absolut nichts dagegen tun kann. Ranala ist anderer Meinung. Sie glaubt, ich müßte nichts weiter tun, als dir befehlen, hierzubleiben und die Nattern einen weiteren Sommer anzuführen, und damit wäre das Problem gelöst. Aber ich war früher einmal ein störrisches, rebellisches Mädchen, und ich erinnere mich noch gut daran, wie herzlich wenig es mich kümmerte, was man mir befahl.«
Sie wies mit einer schmutzigen Hand auf das Haus. »Ich habe einmal keine hundert Schritte von hier gestanden und unserer Großmutter klar und deutlich erklärt, daß ich nicht die Absicht habe, Kriegskönigin von Shara zu sein. Du bist wahrscheinlich zu jung, um dich noch daran zu erinnern, aber Shara hatte eine Zeitlang zwei Königinnen und zwei Könige – ein Königspaar für die Zeit des Friedens und eines für den Krieg. Jedenfalls widersetzte ich mich sowohl meiner Großmutter als auch meinem Großonkel. Ich weigerte mich sogar, nach Kataka zu gehen und mich in die Geheimnisse der Dunklen Mutter einweihen zu lassen. Am Ende tat ich schließlich beides: Ich machte die Initiation mit und wurde Kriegskönigin – aber nicht, weil Lalah und Onkel Bindar es mir befahlen, sondern nur deshalb, weil die Nomaden angriffen und mir keine andere Wahl ließen.
Du siehst also, daß ich etwas verstehen kann, was Ranala niemals verstehen wird: Ich weiß, wie dickköpfig du bist, weil auch ich diese dickköpfige Ader in mir habe. Ich werde nicht versuchen, dich zum Hierbleiben zu überreden. Ganz im Gegenteil. Wenn du möchtest, werde ich dir sogar helfen, deine Satteltaschen zu packen.«
»Die sind bereits gepackt.«
Marrah lachte. »Das habe ich mir schon gedacht. Jetzt mal im Ernst, Kandar ... ich weiß, warum du gehst. Solange du in Shara lebst, bist du gezwungen, Keshna zu sehen. Du teilst Freude mit anderen Frauen, aber du sehnst dich immer nach Keshna wie ein Kind, das den Mond in einem Krug voller Wasser berühren will und bitterlich enttäuscht ist, wenn er ihm durch die Finger schlüpft. «
Kandar war gerührt. Er hatte nicht erwartet, so gut verstanden zu werden. Während Marrah das Gefäß mit Wasser schräg neigte und den Schlamm von ihren Füßen und Beinen abspülte, schwiegen sie. »Aber wenn du gehst, ohne etwas Bestimmtes im Sinn zu haben, und nur ziellos durch die Gegend wanderst, wird dein Kummer noch größer werden«, sagte sie und stellte das Gefäß wieder aufrecht hin. »Du bist ein zu guter Mann, ein zu loyaler Mann, um ein einsamer Wanderer zu werden. Wenn du vor Keshna davonläufst, wirst du dich immer von ihr verfolgt fühlen. Und wenn
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