Altoetting
Sauferei. Das hätte der Durchbruch sein sollen, in Marburg, am Landestheater, bei der Premiere zu Shakespeares Richard III . Das war eine Traumrolle, das war seine Traumrolle. Bei nur sieben Wochen Proben eigentlich ein Wahnsinn. Er hatte es dennoch geschafft. Immer wieder Proben, Proben, nichts als Proben. Sogar sonntags.
Und dann ging der Vorhang auf und der Traum träumte vor sich hin. Und Plotek auch. Im Zuschauerraum saß die ganze Prominenz der Stadt. Oberbürgermeister, Fremdenverkehrsdirektor, Zahnärzte, Museumsleiter und alle, die die Provinz zur Metropole machen wollten. Ganz vorne in der ersten Reihe sah man den Intendanten aus Frankfurt. Das kam nicht oft vor. Einmal in der Spielzeit vielleicht, wenn überhaupt. Solange Plotek da war, war das noch nie vorgefallen. Aber jetzt. Mit dem Richard hätte sich Plotek herausspielen können aus der Provinz, aus Marburg, weg vom Landestheater und hinein in die Main-Metropole. Hinein ins Theater heute, aufs Hochglanzformat, vielleicht sogar auch mal ins Fernsehen. Von Frankfurt aus ist alles möglich, von Marburg aus nichts. Obwohl die Städte nur 80 Kilometer voneinander entfernt sind, liegen dazwischen Theaterwelten und Schauspielerschicksale. In Marburg Theater zu spielen ist wie in Unterhaching Fußball. Trotz Bundesliga werden die nie anerkannt. Und Marburg ist höchstens Regionalliga. Also noch viel schlimmer als Unterhaching. An Marburg kommt das deutsche Feuilleton nur auf dem Weg nach Kassel vorbei. Anhalten tun die höchstens zum Pinkeln, aber schreiben – vergiss es! Über Marburg ist noch nie in einer überregionalen Zeitung etwas geschrieben worden. Zumindest nicht, solange Plotek da war. Die heimische Presse dagegen nimmt nicht einmal der Einheimische ernst. Und dass das Theater heute, das Hochglanzmagazin der Hochglanzkultur, sich irgendwann mal nach Marburg bequemen könnte, ist völlig aussichtslos. Also war Ploteks großer Wunsch, und der von allen anderen Schauspielern des Ensembles im Übrigen auch, da heraus- und woanders hineinzukommen. Als Entdeckung, als Schauspieler mit Zukunft, der endgültig die Provinz hinter sich lässt – und mit ihr die schlechten Gagen, die schlechten Regisseure, die unfähigen Intendanten und deren intrigante Gattinnen. Der alles hinter sich und nur noch eine strahlende Zukunft vor sich hat.
Jetzt saß also der Intendant aus Frankfurt im Zuschauerraum und hätte der Schlüssel zum neuen Leben sein können. Das Guckloch in die Zukunft. Und die war plötzlich ganz nah, kam immer näher, kam auf Plotek zu und war schon in seinem Kopf: Händeschütteln mit Plotek, Vertragsunterzeichnung, Rollenangebote. Das hat Plotek auf der Bühne andauernd denken müssen und sich so überhaupt nicht mehr auf den Richard konzentrieren können. Auf den Text, die Figur, das Stichwort. Er war allein und voll von sich. Mit Gedanken über sich. Plotek hat nichts mehr gehört. Blackout. Auch nicht die Souffleuse, die jetzt geschrien hat, dass man sie sogar in der letzten Reihe vom Parkett aus hören konnte. Und auch nicht die Mitspieler. Lord Buckingham. Lord Hastings. Bürgerlich Nötzelmann und Klein, die ihm ebenfalls Text zugeflüstert haben. Nein, Plotek hat all das nicht mehr gehört. Er hat nur noch den Frankfurter Intendanten gesehen, ganz vorne in der ersten Reihe, mit dem Gesichtsausdruck steil abfallend gegen null. Quasi Weltuntergang.
Wie die Ratten das sinkende Schiff verlassen, hat dann auch der Intendant aus Frankfurt das Parkett verlassen und mit ihm das Theater heute, die Main-Metropole, der Ruhm und die Karriere. Zurück blieb Plotek als Scherbenhaufen, nur noch zusammengehalten von der eigenen Lethargie.
Natürlich musste die Aufführung unterbrochen werden.
Nach zehn Minuten, der Frankfurter Intendant saß bereits wieder im Auto und war mit Vollgas auf der Stadtautobahn Richtung Gießen unterwegs, nach zehn Minuten, verkündete dann der zuvor von Richard getötete Bruder George, Herzog von Clarence, jetzt wieder lebendig und ganz privat, mit belegter Stimme das Ende der Vorstellung. Großes Entsetzen, Verwunderung und leises Genuschel. Dann wurde die Begründung, nämlich Zusammenbruch des Protagonisten durchgesagt. Es wurde um Verständnis gebeten, dann noch mal um Entschuldigung, im Namen des Ensembles, des Theaters, des Intendanten, im Namen von Plotek. Schließlich gab es doch noch verhalten einen mitleidigen Applaus.
»Der dritte Judas in sechs Wochen und die letzte Hoffnung bist du!«, ließ Arno die
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