Altoetting
gibt ja eine Posse. Die Leidensgeschichte Christi wird mit dem Reitmayer als Judas zur absoluten Komödie. Da lachen sich ja die Passionsbesucher über unseren Jesus kaputt. Und das ist dann ein Skandal. Den kann sich vielleicht Monty Python erlauben, aber nicht wir. Sonst bleiben wir ja auf unseren Rosenkränzen sitzen. Und auf den Schneekugeln erst recht. Wir brauchen echte Identifikation, gutes Schauspiel, Authentizität. Verstehst du? Aber wie soll das der Reitmayer auch leisten können. Der ist ja auch nur Einzelhandelskaufmann. Und als Einzelhandelskaufmann kann man vielleicht den . . . den . . . den . . . Johannes, also maximal den Johannes spielen, aber nicht den Judas. Eine Ausnahme ist der Jesus. Ja, der Sparkassendirektor ist vielleicht ein bisschen zu alt, aber der macht das ganz gut. Doch, doch, beim Jesus geht’s auf. Ist ja auch ein Naturtalent. Gibt’s. Aber nicht allzu oft. Leider. Bei uns zu wenig. Natürlich kann kein Professioneller engagiert werden. Zumindest nicht von außerhalb, wegen der Auflagen. Alle Darsteller müssen nämlich aus Altötting sein. Schwachsinn, ich weiß, aber Auflage ist Auflage . . . jedenfalls . . . und jetzt hab ich gedacht. . . ich mein, man könnte ja das Ganze . . . vielleicht. . . könnte man das umgehen. Theoretisch. Ja, könnte man, aber wie, fragst du dich jetzt vielleicht, wie . . . praktisch.«
Natürlich hatte sich Plotek das nicht gefragt, denn Fragen erfordern Konsequenzen, und das sind in der Regel Antworten. Für Plotek war das im Moment völlig undenkbar, wo er doch derzeit im Stillstand seines Selbst verweilte. Ja, nichts denken, nichts tun, nur sein. Auch wenn das jetzt erbärmlich, stinkend, verfettet und übergewichtig sein mag. Egal. Plotek wollte also nichts als sein und nur trinken, leben ohne Konsequenz, ohne Fragen, ohne Antworten – einfach so.
Arno dagegen beantwortete die Frage, die Plotek nicht denken wollte, gleich mit:
»Lange habe ich darüber nachgedacht«, sagte er. »Ja, nachgedacht, ich und der Stadtrat. Und mein Vater. Du weißt ja, der ist der Erste Bürgermeister von Altötting. Und jetzt treff ich dich. Und . . . zufällig . . . hier im Froh und Munter . . . na ja, will mal so sagen . . . ein . . . ein Wink von unserem Herrgott vielleicht, nicht wahr? Verstehst du?«
Arno war ein hervorragender Geschäftsmann, aber ein schlechter Schauspieler. Das merkte Plotek natürlich. Für Plotek war das Thema Schauspielerei nach Marburg endgültig erledigt. Das glaubte er zumindest. Und daran litt er. Deswegen war er wieder nach München zurückgegangen. Deswegen hatte er 15 Kilo in drei Monaten zugenommen, deswegen war das Gesicht so verfettet und das Haar länger als üblich. Deswegen auch die Sauferei, sein einziger Trost war das Unertl-Weißbier . Freunde waren bei ihm Mangelware. Schon immer. Seit Wochen hatte Plotek kaum mehr was gegessen und war trotzdem fett geworden. Allein durch’s Saufen. 15 Kilo. Das war kein schöner Anblick, wirklich nicht. Es war auch kein guter Geruch. Der ganze Plotek war total vernachlässigt. Es gibt Momente im Leben, da wird plötzlich alles unwichtig. Nichts hat mehr die Relevanz von früher. Worüber man sich gestern aufgeregt hat, darüber zuckt man heute gleichgültig mit den Schultern, und was einen früher gefreut hat, nimmt man jetzt gar nicht mehr wahr. Man wird ein anderer und somit auch anders. Plotek wie gesagt hatte 15 Kilo zugelegt und stank, als wäre er wochenlang vor dem Wasser auf der Flucht gewesen. Alles ist in ihm zusammengebrochen in Marburg. Das war die schwärzeste Stunde seines Lebens. Wobei die Stunde nur aus Minuten bestanden hatte. Die Minuten aber waren wie Ewigkeiten. Und dabei hätte alles so schön werden können. Müssen, wenn es nach Plotek gegangen wäre. Er hatte es in der Hand gehabt. Und hat es dann doch nicht zu fassen gekriegt. Wenn das Glück einen verpasst, holt einen spätestens das Pech wieder ein. Zumindest den Plotek in Marburg. Vielleicht war er aber auch einfach zu übermotiviert gewesen. Genauso wie viele Fußballer im Endspiel. Champions League. Sie sind übermotiviert, verursachen ein plötzliches Foul, ein ganz blödes Foul, mit einer Blutgrätsche von hinten in die Beine des Gegners – aus der Traum. Die Folge ist die rote Karte und vorzeitiges Duschen statt der Siegerehrung. Exakt so war das auch bei Plotek gelaufen. Nichts mit Schauspielerhimmel, Verehrung und Bravorufen, sondern menschlicher Abgrund, Hohn, Spott und Buhs. Danach Depression und
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