Altraterra. Band 1: Die Prophezeiung (German Edition)
Tränenschleier wahrnahm. Es ging vorbei an sämtlichen Nachbarshöfen, Bäumen, Bachläufen und Gärten, die sie kannte, und dann immer weiter in die Fremde.
Anne fühlte sich wie betäubt. Immer wieder dachte sie an ihren Vater, von dem sie sich nicht einmal hatte verabschieden können. Was war bloß auf dem Hof geschehen? Wer waren diese Gestalten? Sie setzte mehrmals an, den beiden Männern Fragen zu stellen, doch weder Henri noch Miraj gaben irgendeine Auskunft. Und dass sie wegen des Zaubers keinen von beiden sehen konnte, verstärkte das Unwirkliche der Situation noch. Beinahe fragte sie sich, ob das alles tatsächlich geschah oder nur ein weiterer Traum war.
Erst nach mehreren Stunden beobachtete Anne, wie ihre Körper allmählich wieder sichtbar wurden. Dasselbe galt für die Pferde. Und natürlich für – ihre Spuren. Sie war zunächst erleichtert, doch bald runzelte sie die Stirn. Würden die schwarzen Männer sie verfolgen und aufspüren? Was wollten sie von ihnen?
Bald kam eine weitere, wenn auch vergleichsweise kleine, Sorge hinzu. Anne war keine besonders gute Reiterin und in ihrem dünnen Nachthemd – es war ja keine Zeit zum Umziehen gewesen – rieb sie sich die Haut auf. Gegen Mittag war sie am Ende ihrer Kräfte. Sie blickte immer wieder hilflos zu Miraj, der schließlich erriet, was ihr durch den Kopf ging. „Wir sollten eine Pause einlegen, deine Schwester ist erschöpft und auch die Pferde könnten etwas Ruhe gebrauchen“, sagte er zu Henri. In der Nähe fanden sie eine windgeschützte Stelle hinter einigen großen Büschen an einem Flusslauf, etwas abseits von den Feldern der umliegenden Höfe. Miraj nahm seine Satteldecke von Animus und breitete sie auf dem Boden aus. Anne rollte sich darauf zusammen und schlief augenblicklich ein, obwohl es ein wenig kühl war und ihr der Kopf schier platzte vor Fragen. Sie war einfach zu entkräftet, um nur eine Sekunde länger wach zu bleiben.
Ohne jedes Gefühl dafür, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, wachte sie wieder auf. Ihr war nun warm – einer der beiden Männer hatte die zweite Satteldecke über ihr ausgebreitet. Es war noch hell, sie konnte also nur wenige Stunden geschlafen haben. Was sie geweckt hatte, war indes nicht zu überhören. Miraj und Henri standen etwas abseits bei den Pferden und stritten laut miteinander. „Ich habe dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören“, polterte Miraj gerade. „Es war sehr dumm, zu diesem Zeitpunkt deiner Ausbildung ein solches Wagnis einzugehen. Nun war nicht nur alles umsonst und du musst zurückkehren, nein, du trägst auch noch Schuld am Tod deines Vaters.“ Henri blickte ihn trotzig an. „Meine Schuld? Das liegt doch in deiner Verantwortung. Du hättest mich eben besser vorbereiten müssen, damit ich einem solchen Angriff standhalte.“ Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Miraj auf ihn losgehen, doch er riss sich zusammen und sagte stattdessen mit einem bitteren Unterton: „Henri, ich bin sehr enttäuscht von dir. Nicht, weil deine Kräfte heute versagt haben – das war nicht anders zu erwarten und ich hatte dich deswegen gewarnt. Ich bin enttäuscht, weil du dich von deinen Mitschülern hast provozieren lassen, obwohl du mit leuchtendem Beispiel vorangehen solltest. Und noch mehr enttäuscht es mich, dass du deinen Fehler nicht einsiehst. Es scheint, als hättest du deine Menschlichkeit bereits in so jungen Jahren eingebüßt. Dabei weißt du ganz genau, dass sie es ist, die uns von den Magiern unterscheidet.“
In diesem Moment blickte Miraj zufällig zu Anne hinüber. „Deine Schwester ist wieder wach. Wir sollten das Gespräch fortsetzen, wenn wir an unserem Ziel angekommen sind. Zusammen mit dem Hohen Rat.“ Damit ließ Miraj Henri stehen und reichte Anne die Hand, um ihr aufzuhelfen. Er nahm die Satteldecken an sich, verteilte sie wieder auf den Pferden und stieg auf Animus. „Wird es gehen, Anne?“, erkundigte er sich noch. Sie verzog das Gesicht. „Es muss ja.“ „Sobald wir am Ziel sind, werden wir dir neue Kleidung besorgen. Aber die nächsten Tage wirst du durchhalten müssen.“
Sie ritten noch einige Stunden so fort. Weiter im Landesinneren gab es nicht mehr so viele Höfe wie im Osten, wo Anne herkam. Dichtbelaubte Wälder erstreckten sich von hier bis in den Westen des Landes, doch kannte Anne sie nur vom Hörensagen. Sie war schon jetzt weiter fort von zu Hause, als sie es in ihrem bisherigen Leben je gewesen war.
Anne bemerkte
Weitere Kostenlose Bücher