Altstadtfest
unschuldigen Blick zu, den ich lächelnd erwiderte.
»Na gut«, sagte er und nahm das Blatt zur Hand. »Was wird das für ein Verhältnis sein? Ein gebrochenes, von Angst geprägtes. Die Erzählerin verweigert dem Vater die Anerkennung für seine Leistungen, dafür jagt er sie fort.«
»Sie hätte gerne ein Zuhause«, ergänzte seine Frau, »das sie bei ihrem Vater nicht findet.«
»Ja, sie flieht, kehrt aber immer wieder zurück. Und am Ende kommt es zu einer Versöhnung.«
»Findest du? Wenn, dann ist sie ziemlich fragwürdig, diese Versöhnung.«
»Warum? Weil die Schiffsladung vernichtet ist?«
»Weil der Vater vernichtet ist. Erst nachdem er seine Existenz verloren hat, finden die beiden zueinander. Echte Versöhnung sieht für mich anders aus.«
Er zuckte die Achseln und schwieg.
»Man fragt sich doch«, sagte ich, »warum das Verhältnis zwischen Vater und Tochter so verkorkst ist. Warum die beiden nicht zueinander kommen.«
Zunächst sprach niemand. Erst als Nerius merkte, dass wir beide, seine Frau und ich, ihn anschauten, fühlte er sich zu einer Antwort gedrängt. »Da kann man nur raten«, sagte er. »Sie verweigert sich, er rastet aus. Keine Ahnung, warum.«
»Der Garten, das Haus?«
»Sie hat damit nichts am Hut. Weshalb auch immer.«
»Vielleicht, weil sie generell mit materiellem Besitz wenig am Hut hat.«
»Meinen Sie? Dann interpretieren Sie mal fröhlich weiter. Ich bin anscheinend nicht der geeignete Mann dafür.« Er faltete das Blatt zusammen und reichte es mir.
»Eine Sache noch«, sagte ich, ohne einen Finger zu rühren. »Ein Vater, der seiner Tochter Gewalt antut. Der sie in seinen blühenden Garten führt, der ihr sämtliche Räume seines Hauses zeigt: Lässt das nicht auch eine andere Interpretation zu?«
»Welche?«, sagte Nerius.
Ich wandte mich seiner Frau zu, die ernst dasaß, beide Hände an ihrer Tasse.
»Missbrauch«, sagte sie.
»Ach, Quatsch!«, rief er. »Davon steht kein Wort in diesem Text.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Wäre der Missbrauch beschrieben, müsste man nicht interpretieren. Vielleicht steht er zwischen den Zeilen. Um Gewalt geht es jedenfalls.«
»Aber Gewalt heißt nicht automatisch Missbrauch. Das ist alles Spekulation. Wir können tausend Dinge in diese Geschichte hineinlesen, die nie intendiert waren.« Sein Handy klingelte. Er stand auf, murmelte eine Entschuldigung und nahm das Gespräch im Hinausgehen entgegen.
Seine Frau drehte die Tasse in ihren Händen. Dann sah sie auf und fragte mich: »In welcher Beziehung steht dieser Text zu den Petazzis?«
Ich beschränkte meine Antwort auf eine unbestimmte Geste, denn schon kam der Kunsthistoriker zurück und reichte ihr das Handy. »Für dich«, brummte er. »Hab den Namen nicht verstanden.«
Nun war sie es, die aufstand und uns allein zurückließ. Ich wartete, bis sie außer Hörweite war, dann setzte ich meine Tasse ab und sagte: »Okay, Herr Nerius. Jetzt mal unter uns. Unter uns Männern. Hatten Sie was mit Beatrice Petazzi?«
Das saß.
»Was?«, hauchte er und glotzte mich an. Sein Gesicht: ein einziges Fragezeichen.
Ich verkniff mir ein Lachen. In diesem Moment hätte er gut in die Skulpturensammlung seiner Frau gepasst. ›Ohne Titel IV ‹. Oder ›Kinnbart nach Blitzeinschlag‹ – so in der Art.
»Kommen Sie«, sagte ich, »darum ging es dem alten Petazzi doch in Wahrheit. Er wollte wissen, ob sein bester Mann was mit seiner Tochter hatte, und ich sollte es herausfinden.«
»Das ist nicht wahr«, flüsterte er.
»Nein? Gut, habe ich mich geirrt. Falls er mich doch fragen sollte, könnte ich ihm diesbezüglich Entwarnung geben. Der liebe Herr Nerius, würde ich sagen, hat sich strikt an Ihre Anweisung gehalten. Hat sie sogar übererfüllt. Sobald er sah, dass Ihre Tochter nicht auf der Straße nächtigen musste und sich eigenständig Brötchen kaufen konnte, brach er den Kontakt ab. Sofort. Komplett. Bloß keine Hilfestellung, die als Parteinahme ausgelegt werden könnte. Als Parteinahme für die Tochter und gegen den Vater.«
Nerius schluckte. »Wovon reden Sie eigentlich?«
»Von Ihnen und Ihrer Art, Problemen aus dem Weg zu gehen. Wissen Sie, Herr Nerius, Sie sind mir sympathischer, als Sie glauben. Oder sagen wir: sympathischer, als ich selbst dachte. Egal. Eins jedenfalls finde ich zum Kotzen: Ihren windelweichen Opportunismus. Ihre Katzbuckeleien vor einem Gott namens Petazzi, Ihre Angst, das Falsche am falschen Ort zu äußern. Sie tun, als wären Sie bloß
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