Altstadtfest
Bericht zu schreiben, ich hatte mich auszukurieren, und ich hatte noch einige andere Dinge zu tun. Die tat ich aber nicht. Ich öffnete den Brief.
»Lieber Max«, schrieb Christine, »es ist mein erster Abend in Rom, und ich habe mir vorgenommen, ihn zum Schreiben zu nutzen. Ohne zu wissen, wie ich beginnen soll. Natürlich, der Anfang ist immer das Schwerste. Man will etwas loswerden, aber nicht gleich im ersten Absatz, man sucht nach der richtigen Tonlage, lässt sich von diesem und jenem ablenken.
Von den Straßengeräuschen zum Beispiel, die durchs offene Fenster hereindringen. Die Schritte auf dem Pflaster, die Gespräche, der Verkehr. Ich hatte ganz vergessen, wie laut und lebhaft Trastevere sein kann. Ein Bienenstock, gerade am Abend. Etwas neidisch macht mich das schon. Ich wäre gerne auch so entspannt wie die Menschen hier, so genießerisch und großspurig. Auf dem Kapitolshügel standen heute Mittag die Brautleute Schlange, ließen sich filmen und fotografieren. Knutschten vor den Brunnen, räkelten sich auf den Treppen oder gleich auf dem Dach eines Jeeps. Im Hintergrund die Reisegruppe aus Deutschland, alle Münder offen. Was da gelästert wurde! Über die italienischen Machos und ihre Püppchen mit Handtaschen, über ihren Balztanz, ihre Sonnenbrillen und gegelten Haare. Ich genoss den Anblick. Lasst doch die Leute Theater spielen, dachte ich. Kostüme, Schminke, einstudierte Gesten – das gehört in Rom einfach dazu. Hin und wieder wird es sie schon geben, diese Momente, in denen sogar die Darsteller glauben, sie meinten, was sie spielten.
Hinterher Besuch des Thermenmuseums. Und wieder ein Defilee von Schauspielern: Kaiser, Konsuln, Diktatoren, Götter. Jeder hatte seine Pose, seinen bühnenmäßigen Gesichtsausdruck. Ich musste natürlich an Dich denken, an die Rollen, die Du so gerne spielst, aber es ist etwas anderes, wenn man von einer Person vor allem die Sprüche im Ohr hat, als wenn da lauter stumme Statuen herumstehen. Ich schloss die Augen und versuchte, mir Dich vorzustellen, als römische Statue, in Senatorentracht. Gar nicht so einfach. Als Du endlich vor mir standest, fehlte etwas: die Tiefenwirkung. Du warst so flach geraten, so zweidimensional. Also ging ich um Dich herum, doch kaum stand ich hinter Dir, hatte ich vergessen, wie Du von vorne aussahst. Und dabei blieb es. Egal, welche Deiner Seiten ich in den Blick nahm, immer fehlte die gegenüberliegende, die das Bild vervollständigt hätte. Du warst eine Statue ohne 3-D-Effekt.
Sollte ich mich darüber ärgern? In diesem Moment tat ich es nicht. Bei Dir weiß ich wenigstens, dass Du aus Fleisch und Blut bist und kein toter, marmorner Cäsar, mag der noch so sehr seine Körperlichkeit zur Schau stellen. Vielleicht muss das ja so sein: Vielleicht sehen wir andere Menschen immer nur zweidimensional. So überlegte ich, als ich im Thermenmuseum auf einer Bank saß, müde von der Zugfahrt und ein wenig traurig.
Apropos Fahrt: Als ich heute Morgen im Liegewagen erwachte, dachte ich sofort an Dich. Wie sich überhaupt mit jedem zurückgelegten Kilometer das Gefühl einstellte, Dir näherzukommen. Aus dem Zug stiegen wir sozusagen gemeinsam. Mit dem abwesenden Max im antiken Rom: eine hübsche Vorstellung. Aber keine Sorge, auf der Rückfahrt werde ich Dich wieder loslassen. Oder vielmehr: Du wirst Dich wieder von mir entfernen, Stück für Stück. Das beruhigt Dich doch, oder?
Und damit zu uns. Ich muss mit Dir über unsere Beziehung reden, und weil ich es nicht kann, schreibe ich Dir. So wie ich mich von Dir und Heidelberg entferne, weil ich Dir andernfalls nicht näherkomme. Du lässt es ja nicht zu. Unser Verhältnis beruht auf Paradoxien, das habe ich schon gelernt. Wenn Du nichts sagen möchtest, redest Du wie ein Wasserfall. Und wenn es um die wichtigen Dinge geht, schweigst Du. Du hasst Nähe, aber ohne kannst Du auch nicht leben. Wie wäre es mit Nähe durch Distanz? Ich denke an eine Fernbeziehung in der gleichen Stadt. Ob in derselben Wohnung oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Die Zeiten, in denen mir das wichtig war, sind vorbei, glaub mir das. Ebenso die Zeiten, in denen ich etwas von Dir wollte. Man bekommt ohnehin nicht das, was man von Dir will. Man bekommt immer etwas anderes. Gut, will ich halt das andere.
Nein, im Ernst, ich möchte wieder mit Dir zusammen sein. Nach Deinen Spielregeln, nicht nach meinen. Wir müssen uns nicht jeden Tag sehen, müssen Herd und Bett nicht teilen, ganz wie Du magst. Ich habe es
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