Altstadtfest
Michaels Wohnung beim Bismarckplatz. Schneidmühlstraße.«
Dieser Teil der Stadt lag hinter Bäumen versteckt. Wenn ich mich nach links beugte, konnte ich die Neue Aula sehen, erfasst vom Licht der Laternen auf dem Uniplatz. Usedom, der weiter rechts stand, die Whiskyflasche in der Hand, hatte keine Sicht auf die Stelle, an der Beatrice verblutet war. Eine Weile schwiegen wir. Die Luft roch frisch und würzig. Einzelne Verkehrsgeräusche drangen aus dem Tal zu uns. Ab und zu knackte etwas im Wald.
»Deine Story«, beendete ich schließlich die Gesprächspause, »Beatrice mochte sie nicht?«
»Nee«, sagte er und schüttelte den Lockenkopf. »Zu viel Gewalt, zu viel Trostlosigkeit. Sie fand den Text plakativ.«
»Ehrlich gesagt, ich auch.«
»Ja, meinetwegen. Manchmal ist man halt plakativ. Gewisse Themen erzwingen das geradezu. Ich meine, was ist das Grundübel unserer Gesellschaft? Die Ungleichheit. Nicht was du denkst. Du denkst ans Geld, aber Geld ist bloß eine abstrakte Größe. Der eine fährt Porsche, der andere einen Audi 80. Na und? Solange wir ein bisschen Spielraum für unsere Bedürfnisse haben, ist alles im Lot. Aber wenn wir sehen, dass da einer Macht hat, Macht über andere, die Macht, unsere Spielräume einzuschränken – dann stimmt was nicht. Schau her.« Er packte mich am Arm und wedelte mit der Flasche durch die Luft. »Schau, Max. Da unten wohnen Leute. Ein paar Tausend. Millionäre, Normalbürger, Geringverdiener. Sagen wir, du hast nichts auf der Pfanne. Es reicht gerade zum Leben. Aber dein Nachbar schwimmt im Geld. Gehst du dann hin und machst den Aufstand? Machst du nicht. Nicht, solange er dich respektiert, solange ihr euch auf Augenhöhe begegnet. Aber plötzlich merkst du, dass der Kerl dich verachtet. Dass du nur noch Bürger zweiter Klasse bist. Dass er sein Geld benutzt, um seine Machtposition auszubauen, und seine Macht, um noch mehr Geld zu scheffeln. Du fühlst dich ihm ausgeliefert. Du bist überflüssig, wirst nicht mehr gebraucht. Alle vier Jahre ein Alibikreuzchen, das wars. Bestimmen tun eh die anderen. Wenn es so weit ist, Max, dann implodiert das System.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Es ist so!«, rief er. Ich sah das Weiße in seinen Augen leuchten und den matten Silberglanz seiner Locken. Sein Atem roch nach Alkohol. »Ich sage dir, wir müssen die Macht in unserem Land gerechter verteilen, sonst wird es immer Anschläge, Amokläufe, Revolutionen geben. Latenter Bürgerkrieg, das ist die Gefahr. Ich habe es doch erlebt, damals. Wir waren keine Arbeiterkinder, keine armen Schlucker. Wir waren Bürgersöhne, unsere Eltern haben uns das Studium finanziert. Trotzdem wollten wir das System aus den Angeln heben, und warum? Weil wir uns ausgeliefert fühlten. Einem Staat, der uns nicht an seinen Entscheidungen beteiligte, der Diktaturen unterstützte, der Atomwaffen lagerte, der von Wirtschaftsinteressen gesteuert wurde. Dieser Hochmut, uns alle im Namen der Demokratie für solche Verbrechen einzuspannen – das war nicht mehr zu ertragen, das hat unseren Widerstand herausgefordert.«
»Hochmut klingt verdammt moralisch.«
»So ist es auch gemeint! Früher dachte ich, das System hat Schuld. Oder das Geld. Aber es ist mehr. Es geht um ein Ding, was da drin sitzt.« Er trommelte mit einem Finger gegen meine Brust. »Da sitzt es und macht böse Jungs aus uns, sobald wir die Gelegenheit dazu haben. Das Ding hat auch einen Namen: Superbia. Eine der Todsünden, verstehst du? War schon im Mittelalter in und gilt heute noch. Hochmut, Stolz, Machtstreben. Wenn wir das nicht ändern, fahren wir gegen die Wand. Zack!« Er riss die Flasche an den Mund, aber ich nahm sie ihm weg.
»Allein trinken ist auch eine Todsünde«, sagte ich.
»Ja, mach dich nur lustig. Ich weiß, was ich sage. Ich habe meinen Dante gelesen. Der wusste genau, was in uns frisst, was uns hinunterzieht in die Hölle, was wir überwinden müssen. Superbia, avaritia, luxuria: die unheilige Dreieinigkeit der Todsünden.«
»Und nun für Nichtlateiner, bitte schön?«
Er hielt mir seinen Daumen vor die Nase. »Todsünde Nummer eins: avaritia. Auf deutsch Geiz, Habgier, Geldsucht.« Zum Daumen gesellte sich der Zeige-, später der Mittelfinger. »Zweitens: luxuria. Ausschweifung, Unkeuschheit, Wollust. Drittens: superbia. Den Rest kannst du vergessen. Aber diese drei, die kriegen wir so schnell nicht los. Geld, Sex und Macht: Das sind Archetypen, die haben wir eingesogen mit der Muttermilch. Die
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