Altstadtfest
wurde ich, und viele kamen zu mir, um sich pflegen und trösten zu lassen. Denn nur wer krank ist, kann andere heilen.
So gingen die Jahre ins Land.
Eines Tages erfuhr ich vom Tod meiner Mutter. Ich kehrte zurück ins Hügelland, zum Haus meines Vaters. Der Garten lag verbrannt und verwahrlost, alle Blumen verdorrt, die Bäume gefällt, die Pfade verwildert. Ich sah meine Geschwister einen Sarg umstehen. Stumm ließen sie mich ein in ihren Kreis. Auch mein Vater stand da und dankte mir für mein Kommen. Noch einmal wurde der Sarg geöffnet, und ich weinte über dem bleichen Gesicht meiner Mutter.
Am Abend saßen wir schweigend beieinander. Nur mein Vater sprach über die Verstorbene. Edel und kalt waren seine Worte, und sie gefielen mir nicht.
Um Mitternacht führte er mich durch sein Haus. Er zeigte mir jedes Zimmer, Prunkgemächer und Lichthöfe, Tanzsaal und Bibliothek. Seine Augen schimmerten im Glanz der Marmorböden, und sein Antlitz war hart wie das Palisanderholz der Täfelung.
Ob ich hier einziehen wolle, fragte er. Ich verneinte.
Erglühend wiederholte er: ob ich hier einziehen wolle!
Und schlug mir ins Gesicht und verbannte mich aus seinem Haus.
Nun war ich elender als zuvor. Ich wanderte ohne Ziel, lebte in den Wäldern, mied die Menschen. Kranke verlangten nach mir, Sterbende hofften auf mich. Wie aber sollte ich helfen, wenn ich meinen eigenen Vater nicht von seinem Zorn heilen konnte?
Und so floh ich in die Einsamkeit.
Eines Tages stand ich wieder auf dem Berg, der die Wolken überragt. Weit am Horizont funkelte das Meer, und der Weg der silbernen Schlange führte mich an seine Küste. Dort lag ein prächtiges Schiff vor Anker, das einem reichen Mann gehörte. Niemand wagte es zu betreten, denn eine furchtbare Krankheit wütete an Bord.
Ich ließ mich zu dem Schiff bringen. Verfault war seine Ladung, schwarz das Korn, grau das Fleisch. Auf mein Geheiß wurden die Luken geöffnet und alles ins Meer gekippt, die verrotteten Früchte, die vergorenen Getränke. Da trat der Herr des Schiffes auf mich zu. Ich erkannte meinen Vater, krank und vernichtet. Weinend umarmte er mich und bat um Vergebung.
Auch ich vergoss Tränen.
Das Blatt raschelte leise, als Wolfgang C. Nerius es mir zurückgab.
»Was ist das?«, fragte er. »Woher haben Sie das?«
»Gefällt Ihnen der Text?«
»Weiß nicht. Bisschen kitschig. Märchenhaft.«
»Und Ihnen?«
»Ich«, sagte Renate Urban lächelnd, »schließe mich dem Urteil meines Mannes natürlich an.«
Wir saßen im hinteren Raum ihrer Galerie. Draußen regnete es, der Innenhof lag verlassen da. Bei meiner Ankunft war der kleine Luca noch wach gewesen. Während er in den Mittagsschlaf gesungen wurde, hatten Nerius und ich im Schatten der polnischen Trauerskulpturen das Finanzielle geklärt. Der Fall, da waren wir uns einig gewesen, hatte als abgeschlossen zu gelten. Fehlte nur noch mein Bericht. Kurz danach war Renate Urban nach unten gekommen, vor sich ein Tablett mit einer Teekanne, drei Tassen und Kandiszucker.
»Ostfriesentee bei Ostfriesenwetter«, hatte sie geschmunzelt. Ihr Schmunzeln war in Verwunderung übergegangen, als ich Beatrices Traumerzählung zückte und um eine Einschätzung bat.
Von wem die Geschichte stammte, hatte ich nicht erwähnt.
»Und?«, hakte Nerius nach. »Worum handelt es sich nun bei diesem Text?«
Vorsichtig nippte ich an meinem Tee. »Ich habe ihn von einem Bekannten. Er ist Schriftsteller, mit einem besonderen Faible für Trauerarbeit. Für die Bewältigung der Vergangenheit, wenn Sie so wollen.«
»Stilistisch würde ich sagen: 19. Jahrhundert.«
»Sie müssen es wissen. Aber nun mal inhaltlich: Was verrät uns dieser Text über das Verhältnis der Erzählerin zu ihrem Vater?«
Die beiden wechselten Blicke. »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Nerius alarmiert.
»Weil mich dieser Punkt interessiert. Es ist zwar eine Erzählung, aber womöglich erlaubt sie Rückschlüsse auf reale Gegebenheiten. Nun bin ich in solchen Dingen kein Experte. Sie dagegen haben beide beruflich mit Kunst zu tun und können mir bestimmt bei der Interpretation helfen.«
»Wie heißt der Schriftsteller?«
»Sie werden ihn kaum kennen.« Und als Nerius weiter misstrauisch schaute, fügte ich an: »Es handelt sich bloß um einen Gefallen, um den ich Sie bitte. Mehr nicht.«
»Den können wir wohl kaum abschlagen«, sagte die Urban. »Wenn dich Herr Koller schon bittet, Wolfgang, anstatt dir an die Gurgel zu gehen.« Sie warf mir einen
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