Altstadtfest
seiner Tochter nachträglich einen Sinn aufzupfropfen wie einer Giftflasche einen fest schließenden Korken.
Flasche war das Stichwort. Ich war eine Flasche. Wenn ich jetzt eine Flaschenpost mit einem Gruß an Christine in den Neckar warf, wann erreichte die Rom?
Nein, es ging mir nicht gut. Ich fror nicht mehr, aber meine Gedanken schwappten von einer Schädelwand zur anderen, das schlechte Gewissen plagte mich, mein Kreislauf spielte verrückt. Ich sehnte mich nach einem Bier im Englischen Jäger, wie ich es seit Ewigkeiten nicht mehr genossen hatte. Seit einer knappen Stunde, um genau zu sein.
Ein schwer beladener Frachter zog sanft an uns vorüber. Seine Bugwelle brachte das Solarboot ins Schlingern. Oben auf der Alten Brücke hatten sich Grüppchen von Schaulustigen eingefunden, Kameras und Handys gezückt. Wo waren sie gewesen, als der Mörder durch die Altstadt flüchtete? Warum hatten sie ihm kein Bein gestellt, damit er der Länge nach auf das Kopfsteinpflaster und die Waffe gleich mit …?
Es war gut, dass es niemand gewagt hatte. Der Typ hätte ein Blutbad angerichtet. Das zweite innerhalb von wenigen Tagen. Aber schon im nächsten Moment wusste ich, dass das nicht stimmte. Der Mörder vom Uniplatz und der vom Neckar waren verschiedene Personen. Stämmig der eine, hoch aufgeschossen der andere. Mehr ließ sich nicht über sie sagen.
Sie nannten sich die Arische Front, okay. Ihr Aussehen verbargen sie hinter Motorradhelmen, hinter Bärten und im Schatten von Schirmmützen. Vielleicht waren sie von Kopf bis Fuß mit Hakenkreuztätowierungen übersät, vielleicht hielt man sie für brave Bürger, wenn man ihnen in der Fußgängerzone begegnete. Eine dumpfe Schlägertruppe waren sie jedenfalls nicht, sondern gut organisiert. Das Frettchen konnte ein trauriges Lied davon singen. Sie hatten Lunte gerochen, als der Kerl herumschnüffelte, nachfragte, Nervosität zeigte. Sie hatten ihn beim Packen erwischt, beim Telefonieren, beim Horchen an Türen. Heute waren sie ihm gefolgt. Und als sie mich in das Solarboot steigen sahen, mussten sie mit aller Macht verhindern, dass der Kleine mit mir sprach.
Es gab sie also wirklich.
Und sie waren zum Äußersten entschlossen.
Der Krankenwagen begann leicht zu schaukeln, als Kommissar Fischer einstieg und mir Gesellschaft auf der Trage leistete.
»Der Neckar ist viel sauberer als früher«, sagte er. »Grämen Sie sich also nicht, wenn Sie Wasser geschluckt haben sollten.«
»Nein«, sagte ich. »Ich gräme mich nicht.«
Er verzog den Mund, knibbelte heftig an seiner Nase, dann kramte er ein Päckchen Zigarillos aus seiner Jacke hervor und reichte mir einen. Auch ein Feuerzeug hatte er parat.
»Danke«, sagte ich.
»Sie haben einen aus dem Wasser gefischt und die Kinder beschützt. Heute dürfen Sie ruhig ein bisschen stolz auf sich sein. Auch wenn es schwerfällt.«
Ich sog den Rauch tief ein und schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht Ihre Schuld, dass der Mann erschossen wurde, Herr Koller. Er hätte zu uns kommen sollen.«
»Wie geht es den Kindern?«
»Sie sind in guten Händen.« Er zündete sich ebenfalls einen Zigarillo an. »Die Kollegen vom BKA werden bald hier sein. Ich habe denen gesagt, dass Sie noch ein paar Minuten zum Durchschnaufen brauchen. Danach wird es allerdings einen Interviewmarathon geben, machen Sie sich darauf gefasst.«
»Schon mein Vater sagte immer: Red drüber, mein Junge, dann fühlst du dich besser. Alte Pfarrerweisheit.«
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Mir ein paar Kleider besorgen. Und noch so ein Glas Tee, wenns geht. Außerdem habe ich meine Jacke auf dem Solarboot gelassen. Mit 50.000 Euro drin.«
Einer der Sanitäter sah uns in seinem Wagen rauchen und setzte zu einer Beschwerde an. Ein Blick des Kommissars ließ ihn verstummen.
»Gut«, sagte Fischer, nachdem er meine Wünsche per Handy weitergegeben hatte. »Ich habe mir den Ablauf schon von verschiedenen Seiten schildern lassen. Deshalb nur ein paar kurze Fragen. Sollte in dem Boot der Deal über die Bühne gehen?«
Ich nickte.
»Konnten Sie vorher mit dem Mann sprechen?«
»Kein Wort. Er wollte gerade zusteigen, als der Schuss fiel.«
»Sahen Sie den Mörder kommen?«
»Nein, ich schaute in dem Moment woanders hin. Er muss ganz in der Nähe gewartet haben. Es ging alles so schnell.«
»Und beschreiben können Sie ihn genauso wenig wie die übrigen Zeugen?«
»Groß und schlank. Vollbart. Leichter Mantel in Dunkelgrau, brauner Schal und
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