Altstadtfest
Glotze aus.
»Sie haben mich den ganzen Nachmittag befragt«, schloss ich. » BKA , Verfassungsschutz, alle. Irgendwann wusste ich selbst nicht mehr, was genau passiert war. Ob ich sah, wie der Schuss fiel, oder ob ich ihn nur hörte und dafür Spechts Kopf platzen sah. Ob ich all die Einzelheiten gleich beim ersten Mal wahrnahm oder mir hinterher zusammenreimte. Mir wäre es ja egal. Aber die wollten alles exakt wissen.« Ich nahm noch einen Schluck. Oma Sawatzkis Schnaps brannte nur ein ganz klein bisschen, was ich schade fand. Ich brauchte einen richtigen Rachenputzer, Gedächtnisputzer.
»Puh«, sagte Fatty und schaute Eva an. »Unappetitliche Geschichte. Ich bin noch nie mit dem Solarboot gefahren, und ich weiß nicht, ob ich es jemals tun werde.«
»Ich bin auch nicht damit gefahren«, sagte ich. »Als der Kapitän ablegen wollte, war ich schon im Neckar. Mein Ticket ist sowieso futsch. Ertrunken. Völlig aufgeweicht.«
»Und dieser Typ hat einfach so geschossen? Wie der auf dem Uniplatz?«
»Ausgeholt und geschossen. Nicht gezögert, nicht gewackelt. Glaube ich jedenfalls. Hab ihn ja in der Sekunde davor gar nicht gesehen. Du hast eine tolle Oma, Fatty. Wie alt ist sie eigentlich?«
»92«, antwortete er düster.
»Und trinkt jeden Abend ein Gläschen Schnaps? Klar, muss ja. Ohne wird man nicht so alt.«
»Ist dein Fall jetzt beendet?«, fragte Eva.
»Sieht so aus.«
»Was wirst du Petazzi sagen?«
»Danke für das Honorar. Und Entschuldigung, dass wir Deutschen nicht besser auf unsere Nazis aufpassen können. Ist doch ein Skandal, so was. Aber jetzt kümmert sich Kommissar Fischer darum, und alles wird gut. Wenn sie ihn lassen.«
»Meinst du, sie kriegen diese Typen?«
»Klar.«
»Das darf nicht wahr sein!«, rief Fatty. »Wenn ich mir das vorstelle, dass da ein brauner Killer am Neckar rumspaziert, während du auf dem Boot sitzt. Was da hätte passieren können!«
»Es ist was passiert.«
»Ja, aber dir!«
»Ach so.« Ich dachte an die Mündung des kurzen Revolvers, der in meine Richtung gezielt hatte. Ein kleines rundes Nix. Ein schwarzes Loch, hinter dem sich eine neue Galaxie auftat. Oder nix.
Schnell weitertrinken.
Am nächsten Tag erzählte mir Fatty, wie dieser Abend geendet hatte. Irgendwann war es mir gelungen, mich aus meinem Stuhl zu stemmen. »Runter mit euch«, sagte ich und schwankte dabei so stark, dass die beiden bereitwillig ihre Plätze räumten. Kaum war das Sofa frei, fiel ich darauf und schlief ein. Fatty brachte mir noch eine Decke und zog mir die Schuhe aus. Bis hierhin dürfte sein Bericht der Wahrheit entsprechen, denn morgens wachte ich in Strümpfen und ordentlich verkatert auf seinem Sofa auf.
Nur das mit der Schnapsflasche stimmte nicht. Die hatte ich keinesfalls allein ausgesoffen.
Ich fand sie in der Küche, auf der Arbeitsplatte stehend. Leer. Daneben ein Zettel und eine Packung Aspirin. »Hoffentlich reichen sie«, hatte Fatty geschrieben. »Wir sind bei der Arbeit. Melde dich mal!«
Ich gönnte mir ein kleines Frühstück aus einer Handvoll Tabletten, die ich mit viel Wasser hinunterspülte. Dann fuhr ich langsam nach Hause zurück. Unter bewölktem Himmel schimmerte der Neckar schiefergrau. In der Brückenstraße kaufte ich mir die aktuelle Ausgabe der Neckar-Nachrichten. Auf dem Gepäckträger meines Rads war immer noch der Papierstapel festgeschnallt, den mir Usedom gestern Mittag gegeben hatte. Ich nahm ihn ebenso mit hoch in meine Wohnung wie meine trockenen Kleider, die mir ein Polizeibote in einem Karton vor die Tür gestellt hatte.
Oben blätterte ich erst einmal die Zeitung durch. ›Tödliche Schüsse am Neckar‹, lautete die Überschrift auf Seite eins, und im Lokalteil wurde wild spekuliert: Ging es um Drogen? Um Schutzgeld? War es eine Hinrichtung? Eine Auseinandersetzung zwischen ausländischen Clans? Oder gab es einen Zusammenhang mit dem Attentat vom vergangenen Wochenende? Lauter Fragen, keine Antworten. Die Polizei hielt sich bedeckt, worüber sich die Redakteure der Neckar-Nachrichten bitterlich beklagten. Es handelte sich um dieselben, die am Montag die Arische Front ins Spiel gebracht hatten, und aus ebendiesem Grund waren ihre Krokodilstränen ein schlechter Witz. Natürlich bekamen die beiden keine Informationen mehr von den Behörden. Eine unbekannte Person, wahrscheinlich männlichen Geschlechts, schießt – einmal? mehrmals? – auf eine andere Person, deren Identität der Polizei bekannt ist, die aber aus
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