Altstadtrebellen
Stunden dieses blasse Gesicht. Ich war direkt froh, als ich entdeckte, dass er Lippenherpes hatte. Ein kleiner Blickfang im grauen Allerlei. Wenn man da lange hinschaut, hat das fast etwas Meditatives, dachte ich mir.
Endlich was für Kinder
Als wir unsere Exkursion fortsetzten, kam mir beim Gehen der Gedanke, dass es bei dieser Wanderung vielleicht gar nicht um Elmar geht. Elmar und sein Schicksal, mein damit verbundenes Schuldgefühl, das sind vielleicht nur Dinge, die wir als Antriebsfeder für uns selbst brauchen. Damit irgendetwas passiert. Unsere Reise ist, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen, eine Reise auf der Suche nach dem Glück. Natürlich ohne zu wissen, nach welcher Art von Glück wir suchen. Und die Menschen, die um uns herumströmen, dachte ich, ist das bei denen auch so? Nehmen die sich auch aus irgendeinem Grund etwas vor, weil sie alle etwas suchen? Eine Art von Glück? Flüchten wir vor der Angst, nicht geliebt zu werden?
Meine Überlegungen wurden jäh unterbrochen von einem dichten Getümmel und Gerempel an der Münchner Freiheit. Ein großes Familienfest fand dort statt, gesponsert von einer Krankenkasse, einem Getränkehersteller und den Stadtwerken. Vorbei an Buden, die mit Käse überbackene Vollkornfladen anboten, an Menschentrauben, die sich vor Glasbläsern und Holzschnitzern tummelten, sah ich in Spielplatznähe eine Hüpfburg, in der die darauf hüpfenden Kinder von mit Technosound aufbereiteten Discoschlagern angetrieben wurden. Am Rande des Geschehens landeten wir schließlich vor einer kleinen Freilichtbühne, auf der ständig neue Sensationen angekündigt wurden. Gerade schien der Zauberer ZAPPODINGSDA in bunter Fahrradhose, grell orangefarbenem mittelalterlichem Rüschenhemd und einer Art Sackkappe in leuchtendem Chemiegrün an seinem abschließenden Höhepunkt angekommen zu sein. Er demonstrierte in einem stakkatoartigen Redeschwall, den man sonst nur von jungen dynamischen Radiomoderatoren kennt, sein letztes Kunststück.
Links und rechts von ihm standen ein Junge und ein Mädchen, die einen Behälter mit einem Tuch darüber in der Hand hielten. Irgendwann rief er so etwas wie Schrambulabimm und lupfte die beiden Tücher. Im Glasbehälter des Mädchens befand sich ein rosa Stoffaffe, im Behälter des Jungen nichts. Großer Applaus der etwa dreißig Kinder, die auf den Zuschauerbänken saßen, bemühter Applaus der umherstehenden Eltern. Das war er, der große ZAPPODINGSDA!
Eine Weile starrten wir alle auf eine leere Bühne, irgendwann stellte ein Helfer einen Stuhl in die Mitte. Die Spannung stieg. Alles fragte sich, was jetzt wohl kommen mag. Ein etwa sechzigjähriger Mann mit Schnauzer, Bundlederhose und einem großen Buch in der Hand bestieg von der Seite die Bühne, setzte sich auf den Stuhl, ohne das Publikum zu beachten, und schlug das Buch auf: »So, liebe Kinder, jetzt kommen wir zu einem Märchen. Ich erzähle euch heute die Geschichte …«, dabei blätterte er wahllos in dem Buch von hinten nach vorne, »… vom Froschkönig. Es war einmal in einem fernen Land, da lebte ein König. Dieser König hatte eine Tochter, die gar hübsch anzusehen war. Dieses Mädchen spielte gar zu gern mit ihrem roten Ball im Schlosspark. Denn der König hatte ein Schloss, davor war ein Garten, das nannte man zu dieser Zeit Schlossgarten. Und in diesem Garten spielte die Tochter des Königs mit ihrem güldenen Haar und ihrem roten Ball. Also, sie spielte nur mit dem Ball. Das Haar war einfach so da. Sie warf den Ball hoch, fing ihn wieder auf, dann warf sie ihn wieder hoch und …«, man sah, dass er ein paar Zeilen übersprang, »… so ging das eine ganze Weile!«
Ab hier folgte unser Märchenonkel kaum noch den Zeilen, er begann immer mehr zu improvisieren. »Doch plötzlich war das Töchterchen etwas unkonzentriert, es verwarf sich, etwas zu hoch, so leicht schräg, der Ball bekam einen Drall und fiel tief in den Brunnen hinein. Ach herrje, dachte unser Töchterlein, ach herrje, mein schöner roter Ball im tiefen Brunnen, was soll ich denn jetzt machen?«
An dieser Stelle schwoll sein Kopf an, er versuchte sich zu beherrschen, ließ sein Buch ganz außer Acht und wandte sich direkt an sein junges Publikum: »Und da muss ich sagen, meine lieben Kinder, das hätte es bei uns damals nicht gegeben. Wir hätten uns da irgendwo eine Schnur geholt oder ein Seil, hätten es irgendwo festgebunden, wären runtergeklettert, den Ball unter den Pullover, wieder
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